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Ein Freund zuletzt
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Philipp Heilgenthal
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Der antike Dichter Menandros pries den glücklich, dem es vergönnt war, auch nur den Schatten eines Freundes kennenzulernen. Gewiß hatte er damit recht, vor allem wenn er aus Erfahrung sprach. Montaigne
Bei Gelegenheit einer Betriebstagung in Zürich genehmigte sich Herr B. – abends, an der Bar – einen Whiskey nach dem anderen. Als er schon ziemlich betrunken war und unangenehm den Harndrang spürte, suchte er die Toilette auf. Bei seiner Rückkehr blieb er vor dem Hummerbecken stehen. Ein
Kellner des Restaurants führte soeben einen Gast vor das Becken und zeigte ihm die Auswahl an Hummern. Als sie gegangen waren, trat Herr B. näher an das Becken heran, streifte den Ärmel seines Sakkos nach oben und steckte die Hand ins trübe Wasser. Wieder an der Bar setzte er sich an seinen vorherigen Platz. Den entwendeten Hummer stellte er vor sich auf die Theke. Der routinierte Barkeeper griff nicht ein. Er fragte lediglich, mit einem Seitenblick auf die anderen Gäste: "Ein neues Haustier, Herr B.?" Herr
B. verneinte. "Das ist mein Freund", sagte er, "mein einziger." Nachdem er eine Weile auf das Tier geblickt hatte, fuhr er mit einem Finger über den harten Panzer und bestellte einen Whiskey. Diesem folgten weitere zwei. Unterdessen begann der Barkeeper, dessen Schicht endete, die Bar in Ordnung zu bringen. Schließlich nahm er seinem Gast das leere Glas aus den Händen und sagte: "Für heute ist es wohl genug, Herr B. – ihr Freund hat auch schon ganz kleine Augen." Herr B. blickte auf
den Hummer. Dieser trippelte unsicher mit den Beinen auf dem Tresen. Seine gebundenen Scheren stocherten hilflos in der Luft. Als ihm der Barkeeper aufmunternd auf die Schulter klopfte, nahm er das Tier und ging zur Rezeption. Nachdem Herr B. sich seinen Schlüssel hatte geben lassen, zögerte er einen Moment. Dann streckte er der Rezeptionsdame den Hummer entgegen und sagte: "Lassen sie ihn bitte steamen. Für mein Frühstück, morgen um zehn."
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