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Angelgeschichte

Michael Cyran



Er sprang auf die Küchenplatte und suchte die Hängeschränke ab. Den mittleren, den rechten, den linken. Den Versteck in der linken Ecke des oberen Fachs hinter zwei Gewürzfläschchen und einer Mehlpackung würde er sich für später merken.
Der rote oder grüne? Er nahm den grünen. Die Folie knisterte vielversprechend. Blöderweise war sie vom Lutscher nicht wegzukriegen. Er musste sie mit den Fingernägeln abkratzen. Mit klebrigen Händen rutschte er ans Fenster, wo er lutschen und gleichzeitig beobachten konnte, was draußen vor sich ging.
Es war noch dunkel und ein rauer Nebel streifte die Plattenbauten. Das Fenster im Haus gegenüber schimmerte gelblich.
Zuerst nahm er sich die brüchigen Ränder vor. Dann schob er den ganzen Lutscher in den Mund, und als er an der Zuckermasse sog, klopfte es an der Tür.
Der Milchmann?
Er sprang von der Arbeitsplatte herunter, lief ins Vorzimmer und öffnete die Tür. Das war nicht der Milchmann. Das war Vater!
"Guten Tag mein Söhnchen!"
Vater war von Kopf bis Fuß mit Angelsachen behängt.
Er blieb in der Tür stehen und nahm langsam den Lutscher aus dem Mund.
"Schläft Mutter noch?"
Er nickte und machte Platz.
"Wie geht's dir?" fragte Vater, der das Vorzimmer betrat und die Angelsachen nacheinander auf dem Teppich ablegte. "Bist du taub? Wie geht's dir?"
"Gut. Ich habe nur etwas Schnupfen. Mutter sagte, ich bin erkältet."
"Erkältet?!"
"Uhym."
"Mach den Mund auf!"
Das war er nicht mehr gewohnt, und er hatte nicht die Absicht zu gehorchen, aber plötzlich tauchte in Vaters Hand eine Taschenlampe auf.
"Gib mir den Lutscher und mach die Klappe auf. Sag jetzt Aaa!"
Er ließ seinen Kopf in den Nacken fallen und sagte halbherzig Aaa. Vater zielte mit dem Lichtstrahl in seinen Rachen, runzelte die Stirn, hob die Augenbrauen und neigte den Kopf hin und her, als gäbe er sich Mühe, auch in die entlegendsten Winkel hineinzuspähen. Ein trockenes Klicken neben seinem rechten Ohr. Vater legte die Taschenlampe wieder in den Angelkasten.
"Und Mutter sagte, du wärst erkältet?"
"Ja."
"Blödsinn. Du bist kerngesund."
"Mutter sagte aber..."
"Ach, Mutter, Mutter..., bist du ein Mann oder ein weinerlicher Schlafanzug?"
Vater beugte sich über die Angelsachen und reichte ihm drei Bambusstöcke.
"Hier, nimm. Für dich."
Er nahm die Stöcke und Vater half ihm die Angel zusammenzubauen.
Drei Dinge gefielen ihm nicht. Das zweite war, dass ihm Vater ausgerechnet eine Kinderangel aus Bambus geschenkt hatte. Das erste war, dass nicht der Milchmann geklingelt hatte, sondern Vater. Und das dritte, dass an der Angel keine Rolle dran war.
"Zufrieden?" fragte Vater.
"Wo ist die Rolle?"
Er hielt die Rolle für den besten Teil der Angel. Das metallische Tickern der Zahnräder, das Zischen der ausgeworfenen Schnur und das ferne Aufschlagen des Bleis gaben einem das Gefühl, an ernsten Dingen teilzuhaben.
"Du brauchst keine." Vater klopfte ihm auf den Oberschenkel. "Weißt du, ich dachte, wir könnten deine Angel heute ausprobieren. Morgen fahre ich wieder weg."
"Ich weck Mutter und frag sie. O.K.?" er machte auf der Ferse kehrt, doch Vater packte ihn am Arm.
"Lass sie schlafen."
Er sah Vater an, der nichts sagte, sondern nur lächelte. So als wollte er damit sagen, dass er etwas wüsste, was nur Väter wüssten, und was er nicht wissen konnte, weil er nur der Sohn war.
Der Vater ging voran, er folgte. Am Rande der Plattenbausiedlung bogen sie in einen Fußpfad ein, der entlang der Schrebergärten zum Fluss führte. Der Köcher aus Draht stieß gegen das Knie, in der Linken pendelte die Bambusangel.
Vater hatte ihm bisher nicht viel geschenkt. Das einzige, woran er sich erinnern konnte, war eine Armbanduhr, die aber nicht funktionierte.
Die Schrebergärten endeten, der Pfad kletterte auf den Damm. Er beugte sich vor, rammte seine Fußspitzen in die Erde und stieß sich mit einigen kräftigen Schritten nach oben.
Der Blick öffnete sich. Dichter Nebel bedeckte das Tal. Vater war hinuntergestiegen. Er aber stand auf dem Damm und fragte sich, was Mutter tun würde, wenn sie den Zettel auf ihrem Nachttisch lesen würde und ob der Abstand zwischen ihm und Vater ausreichend war, um nach Hause zu fliehen. Er sah, wie sich Vaters grüne Jacke beim Gehen auf und ab hob. Auf einmal bewegte sie sich nicht mehr. Wie würde sich Vater fühlen, wenn er merken würde, dass ihm sein Sohn nicht folgte? Noch drehte sich Vater nicht um, sondern stand einfach da und wartete.
Er stürzte den Damm hinunter, schloss die Lücke und folgte dem rhythmischen Reiben von Vaters Hosenbeinen. Die feuchte Luft strömte in seine Lunge.
Er war schon ein paar Mal mit Vater zum Angeln mitgekommen, aber selbst geangelt hatte er noch nie. Er wusste, dass man zum Angeln eine Genehmigung benötigte, die er nicht hatte, und dass sie Vater entzogen worden war, weil er an unerlaubten Plätzen gefischt hatte.
Das Oderbett hätte sich kaum erkennen lassen, wenn nicht seine Ränder von Schilfrohr bewachsen wären.
Vater machte eine Handbewegung, dass sie sich dem Ufer leise nähern sollten. Durch das Schilfrohr hindurch arbeiteten sie sich zu einem schmalen grasbewachsenen Absatz vor, auf dem zwei Astgabeln aus der Erde staken. Vater ging in die Hocke.
"Um diese Zeit kreisen hier Barsche und Plötzen auf Futtersuche. Du kannst sie nicht sehen, aber dich sehen sie schon."
Dann zeigte ihm Vater, an welcher Stelle man den Regenwurm mit dem Haken am besten durchstach, damit er einen guten Köder abgab und wie man die Schnur mit Blei beschwerte, damit der Köder nicht auf der Oberfläche schwamm. Schließlich warf er die beiden Angeln aus und legte sie auf die Gabeln.
"Den Anhieb machst du erst, wenn die Pose ganz unter der Oberfläche verschwindet. Mach aber einen kräftigen Anhieb. Und nicht zur Seite, sondern in die Höhe, so." Vater machte es ihm vor. Dann hockte er sich wieder hin, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete seinen großen Schaumstoffschwimmer.
Er wusste nur wenig über seinen Vater, nur das, was seine Mutter über ihn gesagt hatte. Dass er zuviel trank, oder ein anderes Mal, dass er nicht ganz normal war und man vor ihm auf der Hut sein muss.
Seine Pose stand aufrecht im Wasser, seine Zehenspitzen fühlten sich immer kälter an.
"Vater?"
"Ja."
"Welche Fische sind leichter zu fangen – die Plötzen oder die Barsche?"
Vater legte den Finger an die Lippen.
"Psst! Sie hören das und ziehen noch ihre Schlüsse."
Kleine Wirbel umtanzten seine Pose. Hier und da faltete sich die Wasseroberfläche. Schwammen darunter Fische? Er wusste es nicht und musste sich damit begnügen, nur die Hälfte von dem zu sehen, was eigentlich da war.
Eine Brise streifte das Schilfrohr. Unwillkürlich drehte er sich um. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, jedenfalls so, dass er die Umrisse einer Gestalt sehen konnte, die sich auf sie zu bewegte. Er hoffte, dass es nicht die Wasserwacht war.
"Schau! Deine Pose!"
Tatsächlich. Seine Pose zuckte. Er fasste die Angel.
"Noch nicht! Warte!"
Die Pose zuckte wieder.
"Er spielt nur. Das ist noch nichts."
Er drehte sich um. Jetzt erkannte er, dass es Mutter war, die auf sie zu steuerte. Auch Vater erkannte sie und zertrat die Zigarette. Mutter rannte.
"Gib acht, die Pose!"
Er beugte sich, hob die Angel von der Gabel und auf einmal war die Pose nicht mehr zu sehen.
"Schlag an!", brüllte Vater, "Er hat angebissen! Jesus Christus! Schlag dich endlich an!"
Und er schlug an. Die Schnur spannte sich, und er fühlte, dass da etwas Schweres am Haken war.
"Du hast ihn! Lass dich nur nicht verrückt machen. Langsam ans Ufer ziehen, langsamer, langsamer..."
Der Fisch war jetzt ganz nahe am Ufer. Und wie großartig er kämpfte! Er wusste nicht, womit er die Angel festhalten soll.
Das Schilfrohr rauschte. Mutter preschte vor.
"Marek!" Sie keuchte wie eine Lokomotive. "Marek! Leg die Angel weg!"
Er hatte nicht die Absicht zu gehorchen. Er hielt die Angel hoch und die Leine straff. Im Augenwinkel sah er, wie Mutter auf Vater zu ging.
"Sag, er soll aufhören!"
"Bist du denn übergeschnappt! Jetzt wird er erst mit dem Barsch fertig. – Los, hol dir den Bastard! Den Kescher!"
"Marek! Nach Hause!"
Der Fisch kam an die Oberfläche.
"Schau dir das an! Ist das ein Monster, Gott im Himmel!" Er klemmte den unteren Teil der Angel unter die rechte Kniekehle. Jetzt hatte er die linke Hand frei und beugte sich nach dem Kescher.
"Lass das Zeug liegen!"
"Worauf wartest du? Nimm den Kescher!"
"Tu das nicht Marek, hörst du!"
"Los, nimm endlich den verdammten Kescher!"
Er griff nach dem Kescher und schaute dabei zu Mutter auf, in der Erwartung, dass sie es ihm nachträglich erlaube. Aber sie stand mit zusammengepressten Lippen da und sagte nichts, so als ob sie noch überlege. Er streckte die linke Hand mit dem Kescher aus. In der rechten Hand hielt er den mittleren, in der linken Kniekehle den unteren Teil der Angel. Wenn er sich jetzt bewegte, landete er im Wasser. Er konnte nicht anders, er ließ den Kescher ins Wasser fallen. Um die Angel mit beiden Händen zu fassen, gab er dem Fisch etwas Schnur. Das hätte er nicht tun sollen. Der Barsch witterte Hoffnung, verbiss sich in dem Haken, zappelte wild umher, tauchte kurz ab und warf sich dann verzweifelt aus dem Wasser.
Er dachte schon, gleich breche die Angel. Aber sie brach nicht. Der Fisch tauchte wieder ab und schnellte über das Wasser empor, so dass er seinen gedrungenen Kopf und die spitzen Strahlen der Rückenflosse sah. Die Angel spannte sich zu einem Bogen. Und das war es. Die Schnur riss und der Barsch schwamm davon.
Er hielt noch immer die Bambusangel, als ihn Mutter an der Hand von dem Angelplatz weg über das Tal führte.
Der Nebel hatte sich aufgelöst. Ein letztes Mal blickte er sich um. Vater sah reglos zu ihm hinüber, als hätte man ihm etwas genommen, was er sich gewiss zurückholen würde. Und er wusste nicht, wie er daran etwas ändern konnte.



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