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Eisbären mögenīs eisig, oder nicht?

Andreas Neuner



In "Eisbären mögenīs eisig, oder nicht?" geht es um den jungen Eisbären Iniklu, der die Polarkälte gar nicht mag, sondern statt dessen vom sonnigen Süden träumt. In den ersten drei Kapitel wird erzählt, wie trotz des Unverständnis seiner Eltern und der Hänseleien seiner Geschwister Iniklus Wunsch immer stärker wird, der Kälte zu entfliehen. Schließlich erreicht es Iniklu, seinen Vater zu überreden, und darf im Kapitel 4. nach Brasilien reisen. Doch dort ist weder seine Verwandtschaft, die Ameisenbären mit ihrem ständigen Leibgericht Ameisen, noch die brasilianische Hitze nach Iniklus Geschmack.
Und so beschließt Iniklu im sechsten und letzten Kapitel, nachdem er seinen besten Freund Tonno, ein brasilianisches Nabelschweinchen, in einer schweißtreibenden Aktion vor einem Jaguar gerettet hat, zu seiner Familie heimzukehren. Iniklu weiß jetzt, dass sich ein Eisbär doch am wohlsten im ewigen Eis fühlt.
Der Textauszug "Ravioli, lecker!" ist das zweite Kapitel des Buches.



Ravioli, lecker!


Iniklu zog sich mühsam vom Meer auf die glitschige Eisscholle. Beinahe rutschte er ab, doch er bohrte seine Krallen ins Eis, und mit einem letzten großen Ruck war er oben. Sofort ließ ihn der Polarwind frösteln. Iniklu schüttelte sich heftig, so dass die Wassertropfen von seinem Fell nach allen Seiten spritzten.
"Hey, pass doch auf!" rief seine Schwester Onok.
Doch Iniklu machte weiter. Ihm war so kalt, wie es noch nie einem Eisbären kalt gewesen war. Schon im Wasser hatte er gefroren. Doch da Iniklu das Schwimmen so viel Spaß machte, hatte er die Kälte fast vergessen. Nun aber zitterte er erbärmlich. Warum muss ich nur im ewigen Eis leben, dachte Iniklu, ich brauche Sonne und Wärme.
Onok und auch sein Bruder Unuk schauten Iniklu böse an, als er endlich damit aufhörte, sich wie ein Zitteraal zu schütteln. Dann jedoch fiel allen dreien ein, warum sie eigentlich hier waren. Wegen dem riesigen Ding mit dem Namen Schiff. Wie hatte sie das vergessen können? Das Schiff ragte doch nur wenige Meter weiter wie ein Eisberg aus dem Eis. Und ihre Mama war schon auf dem Weg dahin.
"Mama, Mama", riefen Iniklu, Onok und Unuk, "nicht so schnell. Warte doch auf uns!"
Ihre Mama drehte sich um und sagte: "Dann kommt! Ich rieche schon lauter leckeres Futter an Bord des Schiffes. Schnuppert doch auch īmal! Der Wind duftet richtig. – Mmh", brummte sie noch und ging weiter auf das Schiff zu.
Auf einmal sah Iniklu vor dem Schiff zwei Tiere stehen. Komische Tiere, dachte Iniklu, die laufen ja nur auf zwei Beinen und nackte Gesichter haben sie auch noch. Bei Opa Eisbärs hohlem Zahn, die müssen aber frieren.
"Vorsicht!" flüsterte Mama und stellte sich schützend vor Iniklu und seine Geschwister. "Vielleicht haben sie Schießgewehre dabei. Menschen mit Gewehren sind gefährlich!"
"Das sind Menschen?" Iniklu staunte.
"Schmecken die gut?" fragte Unuk, der immer nur ans Futtern dachte.
"Weiß ich nicht", antwortete Mama. "Vielleicht schon. Aber merkt euch, von Menschen lässt man besser die Pfoten. Frisst man einen, werden die anderen furchtbar böse. Und das ist dann nicht zum Lachen. Also Pfoten weg von den Menschen! Das ist alte Eisbären-Weisheit."
"Aber sie schauen lecker aus", sagte Onok, die genauso verfressen war wie Unuk.
"Hast du Eis in den Ohren? Du hast Mama doch gehört", raunzte Iniklu Onok an. Diese Fresssucht war ihm einfach zuviel. Iniklu wollte keine Menschen fressen. Im Gegenteil, er fand diese unbekannten Tiere hochinteressant.
Die Menschen hatten Iniklus Familie noch nicht bemerkt. Sie standen auf dem Eis neben dem Schiff und hielten jeweils einen kleinen, weißen Stängel in der Hand. Ab und zu führten sie den Stängel zum Mund, fraßen ihn aber nicht, sondern holten Dampf aus ihm hervor. Seltsam, seltsam, dachte Iniklu, dass machen die Menschen bestimmt, um ihre nackten Gesichter zu wärmen. Ich sollte das auch einmal probieren.
"Mama", fragte Iniklu, "was tun die Menschen da?"
"Etwas, das nicht sehr gesund aussieht. Sie rauchen Zigaretten."
"Mama, was ...?"
"Nicht jetzt Iniklu", stoppte ihn seine Mama, dabei hätte Iniklu noch so viele Fragen gehabt. "Kommt!" sagte sie, "ich sehe keine Gewehre, und ohne Gewehre sind Menschen für Eisbären keine Gefahr. Wir wollen sie daher begrüßen." Iniklus Mama ging auf die Menschen zu und brummte freundlich: "Guten Morgen."
Die beiden Menschen blickten auf. Sie sahen sehr erschrocken aus. Sofort schrieen sie: "Eisbären, rette sich, wer kann!"
Beruhigend sagte Mama: "Keine Angst, wir wollen euch nicht fressen."
Doch die Menschen hatten schon kehrt gemacht und liefen so schnell davon, wie sie ihre zwei dünnen Beine trugen.
"Seht ihr", erklärte Mama, "die Menschen hören einfach nicht zu. Sie sind wirklich zu bedauern."
"Aber wir können die Menschen verstehen", stellte Iniklu verwundert fest.
"Natürlich können wir das", erwiderte seine Mama halb abwesend, da sie ihre große, schwarze Nasenspitze in den Wind steckte. "Mmh, wie das duftet. Kinder, riecht ihr das nicht auch?"
Ja klar konnten Iniklu, Onok und Unuk den Essensduft riechen, so stark und herrlich war er in der Luft. Mit einem Satz sprangen alle vier auf den Steg, der zum Schiff empor führte. Oben angekommen, gab es viele Räume, aber keine weiteren Menschen mehr. Iniklu kam sich vor wie im Eisbärenhimmel. Nicht nur wegen des Futterdufts, sondern vor allem, weil es in dem Schiff so herrlich warm war.
Zum ersten Mal in seinem Leben war es Iniklu richtig warm. Mama dagegen schimpfte vor sich hin: "Was ist das nur für eine Hitze hier? Das hält doch kein Eisbär aus."
Dann rief Mama plötzlich: "Hier ist es! Unser Mittagessen. Kommt alle her!"
Lauter seltsame Geräte standen in dem Raum. Mittendrin aber dampfte es aus einem runden Ding heraus. Genau von dort kam der herrliche Geruch.
"Au", jaulte Unuk. "Ist das heiß." Schnell zog er seine Pfote weg. Der Vielfrass hatte zu gierig nach dem dampfenden Ding gegriffen.
"Lasst den Topf in Ruhe!" warnte Mama. Dann seufzte sie und meinte: "Ich weiß ja auch nicht, warum die Menschen ihr bestes Futter immer kochen müssen. Dadurch wird es völlig ungenießbar."
Mama schüttelte den Kopf und schaute suchend umher. Dann fand sie das, was sie suchte: "Aha, hier sind noch mehr Ravioli, und kalt sind sie auch."
Sofort versuchte Onok in eines der Dinger zu beißen, auf die Mama zeigte. "Autsch! Das ist aber hart. Und es schmeckt auch nicht", beschwerte sie sich.
"Nicht so ungeduldig", sagte Mama. "Eine Dose muss erst geöffnet werden. Das Futter ist innen drinnen."
Iniklus Mama setzte sich auf ihren Po. Sie hielt die Dose mit ihrer einen Pfote fest und bohrte dann ihre stärkste Kralle in die Dose hinein. Ritsch ratsch drehte sie die Dose einmal rundherum, und schon war die Dose offen. Mama ist einfach genial, dachte Iniklu.
"Schneidet euch nicht am Rand! Der ist scharf", warnte sie Mama und öffnete noch eine Dose und noch eine und noch eine. Jeder bekam eine Dose Ravioli und Mama die größte.
War das lecker. Noch nie hatte Iniklu etwas so Gutes gegessen. Sobald eine Ravioli in Iniklus Mund verschwand, zerging sie ihm auf der Zunge. Die Ravioli schwammen in einer roten Soße. Iniklu musste sie einzeln herausfischen. Das war gar nicht einfach, denn sie waren glitschig. Dabei kleckerte er auch, und hatte bald überall Flecken auf seinem weißen Pelz. Aber egal, Mama und seine Geschwister waren auch ganz rot gepunktet. Ach war das gut. Die Ravioli waren mit Käse und Gemüse gefüllt. Lecker, lecker, lecker! Am Ende leckte Iniklu sogar seine Dose aus.
Dann aber bemerkte Iniklu etwas, das ihn ganz und gar in Bann schlug. An der Wand hing ein Bild. Darauf war ein hellblaues, glasklares Meer zu sehen, auf dem sich die Sonne spiegelte. Und das Meer schlug mit sanften Wellen gegen einen Strand. Und der Strand war aus weißem Sand, so fein wie Eiskristalle. Und aus dem Sand wuchsen große Bäume mit einem Dach aus gezackten langen Blättern. Und Iniklu?
Iniklu stand der Mund offen. Er konnte richtig die Wärme spüren, die aus diesem Bild strahlte.
Seine Mama hatte Iniklus offenen Mund gesehen. "Brasilien", sagte sie und las dann laut die Aufschrift vor, die auf dem Werbeplakat stand: "Kommt nach Brasilien, ins Land der Sonne!"
"Oh, da will ich hin", seufzte Iniklu.
Mama aber schüttelte den Kopf und sagte: "Dort ist es viel zu heiß für Eisbären."

Am Abend rollten sich Iniklu, Onok und Unuk mit ihrer Mama zu einem Knäuel zusammen, um gut gegen den eisigen Polarwind geschützt zu sein. Iniklu hatte das warme Schiff gar nicht mehr verlassen wollen. "Warum müssen wir draußen auf einer Eisscholle übernachten?" hatte er gefragt. Doch seine Mama hatte darauf bestanden. "Eisbären leben im Eis", hatte sie nur gesagt.
Schließlich war Iniklu trotz aller Kälte eingeschlafen. Dabei träumte er von Brasilien, und manchmal auch von Ravioli und dann wieder von Brasilien. Iniklu träumte viel in dieser Nacht.



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