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Inserat

Michael Cyran



"Klaus?... Klaus!"
"Ja."
Mein Kollege. Laut Kompetenzdatenbank im firmeneigenen Intranet the king of the IT-unit . Javagenie, ASP-Profi, SAP-Guru. HTML, VB-Script, C++ – alles im Schlaf. Seit fünfzehn Minuten das rechte Auge am rechten, das linke Auge am linken Display. Fehlersuche – Fehlerbehebung.
"Gehen wir?
"Yhym."
Teamwork. Es verging eine Minute. Zwei. Draußen klingelte ein Fahrrad. Der glatzköpfige Typ an der Bar lachte über den Witz der Kellnerin.
"Wollen wir gehen?
"Ja."
Ich betrachtete den braunen Ring, den der Kaffee in der Tasse hinterlassen hatte und den Glatzkopf, der weiße Sportsocken trug.
"Klaus?"
"Yhym."
"Wollen wir bleiben?"
"Ja."
Der Glatzkopf sagte etwas, worauf die Kellnerin lachte. Der Glatzkopf machte noch einen Witz. Die Kellnerin hörte auf zu lachen und begann die Gläser zu putzen. Sehr pflichtbewusst. -
Wieso hatte ich die Zeitschriften nicht vorher gesehen? Da! Stapelweise lagen sie auf der Fensterbank. -
Bild der Frau? Lokales Kulturmagazin? Ja, doch lieber das zweite. Ich setzte mich wieder und begann zu blättern.
Hinter der Anzeige eines Theaters, eines Metzgers und eines Discounters fand ich die Kontaktseiten. Rubrik Bekanntschaften (kein Sex). Philosophin (fettgedruckt und zentriert). Verachtete die Oberflächlichkeit dieser Welt, suchte nach einem männlichen Gleichgesinnten. Foto bitte beifügen.
Ich riss das Blatt aus der Heftung, legte eine Fünfmarkmünze auf den Tisch und verließ das Café. Draußen klopfte ich ans Fensterglas.
"Klaus?"
Er hatte nichts gemerkt. Speicherte gerade die Datei.
Ich schaltete daheim den PC ein und tippte in das Browserfenster die Adresse ein. Die Website mit den Textvorlagen für Antworten auf Kontaktanzeigen baute sich vor mir auf. Hinter den Buttons er an ihn, sie an sie, fand ich den Button er an sie, klickte darauf, und es erschien eine Auswahl sortierter Texte. Ich wählte die Textvariante, die – wie der Webmaster versicherte – mit einer Häufigkeit von 55% beantwortet wurde. In ein interaktives Formular fügte ich meinen Namen, meine Adresse und meine Hobbys ein. Dann klickte ich auf den Button Erstellen. Den fertigen Text kopierte ich in eine Datei auf meiner Festplatte und formatierte ihn in der eleganten Schriftart Geramond . Bitte sehr. Ich kann auch romantisch sein.
Dann klickte ich auf den Button Bildergalerie . Auch die Fotos praktisch sortiert und mit entsprechenden Untertexten versehen. Ich wählte wieder das Bild mit der höchsten Antwortwahrscheinlichkeit aus. Der Untertext besagte, dass seitdem man unter der Nase des abgebildeten Models ein kleines Muttermal digital beigefügt hatte, das Foto viel häufiger, nämlich zu 78 %, beantwortet wurde. Er druckte den fertigen Brief aus. Das ganze klang in etwa so:
Mehr als Freundschaft ist noch nicht drin, undsoweiter undsoweiter, mein Schmerz wird noch lange andauern, undsoweiter undsoweiter, aber es heißt doch, sag niemals nie, undsoweiter undsoweiter...
Tja. Das war es. Ich befeuchtete die Briefmarke und klebte sie auf den Umschlag. Nicht ohne nachzudenken, wie umständlich das doch alles sei, begab ich mich zum Briefkasten.
Es begann vielversprechend. Der Antwortbrief Silkes – so hieß in Wirklichkeit die Philosophin – lag schon nach drei Tagen in meinem Briefkasten. Scheinbar haben weder das Foto noch der Brief ihre Wirkung verfehlt.
Silke schrieb ihren Text mit der Hand:
Dein Brief hat mir ziemlich gefallen...
Sie untertrieb, dachte ich.
Es stellte sich heraus, dass Silke keine Berufsphilosophin war, sondern eine Lehramtsstudentin, die etwas zu viel über das Leben nachdachte. Sie wohnte in Kleinseebach, jobbte bei C&A und las Thomas Bernhard.
Nur nicht abschrecken lassen. Aus Erfahrung wusste ich, dass gerade Frauen, die auf den ersten Blick langweilig erschienen, bei genauerem Hinsehen höchst willkommene Eigenschaften offenbarten.
So auch Silke. Nachdem ich den Brief zu Ende gelesen hatte, war ich felsenfest davon überzeugt, dass sie naiv, unsicher und voller Komplexe war. Sie gestand mir beispielsweise, dass sie sich von ihrer Umwelt unverstanden fühlte. Sie schien die sprichwörtliche Unschuld vom Lande zu sein, und ich nahm an, es genüge ihr einen kleinen Vortrag über die Ungerechtigkeit in der Welt zu halten, es reiche, mit traurig zusammengezogenen Augenbrauen festzustellen, dass ich – ehrlich gesagt – auch selbst oft missverstanden werde, wie gut ich sie verstehen könne, dass sie nichts von diesen Männern, die nur auf das Eine aus sind, wissen wolle, dass nur die Freundschaft zähle, nicht Sex, und dass sie in mir eine Person habe, die sie verstehe, die sie wirklich gerne habe und ihre Probleme schnell beiseite schaffen könne.
Solche Überlegungen spornten mich an. Mein nächster Brief war vier Seiten lang. Silkes Antwort kam wieder recht prompt. Ein hübscher, netter Brief. Doch post scriptum hieß es:
Wieso schreibst Du immer mit der Schreibmaschine? So unpersönlich...
Ins Kloster mit ihr! Landpomeranze. Ich hatte noch nie eine Schreibmaschine benutzt. Und dazu noch diese raffinierte Zivilisationskritik. Unpersönlich...
Andererseits, wenn sie mit der Romantikmasche anfing, konnten meine Aussichten gar nicht so schlecht sein. Alles was sie brauchte, war eine schonende Aufklärung.
Liebe Silke, ich muss Dich darauf hinweisen, dass ich gar keine Schreibmaschine besitze; ich benutze einen PC und eine durchaus nicht billige Textverarbeitungssoftware. Natürlich habe er eine Menge Gründe, wieso ich auf die Hilfe meines Rechners zurückgreife.
Im Anschluss daran zählte ich acht sehr vernünftige Gründe auf und glaubte, damit sei die Sache mit der Handschrift geklärt. In meiner Abhandlung über die Vorteile einer Textverarbeitung gegenüber einem Füller brachte ich sogar einige philosophische Betrachtungen unter:
Das Schriftbild, liebe Silke, stellt lediglich die Hülle dar. Der Inhalt bleibt unverwechselbar. Natürlich kann ich auch mit dem Füller schreiben. Aber das kann man nicht lesen. Aus Höflichkeit, und um Missverständnissen vorzubeugen, schreibe ich am Rechner.
Insgesamt kam mein dritter Brief auf neun Seiten. Ich brauchte den ganzen Sonntag dazu. In der letzten Zeile bat ich sie um ein Foto.
So reagierte die Philosophin:
Ich finde es wirklich schade, dass Du mir Briefe am PC schreibst. Das ist ja völlig unromantisch. Einen Schreibmaschinenbrief kann man als Frau noch akzeptieren, aber einen Computerbrief? So kalt, so distanziert...
Sie ging überhaupt nicht auf meine Argumente ein. Dafür ergoss sie sich in Bekenntnissen:
Übrigens sehe ich es nicht so, dass ich gut daran tue, wenn ich so viel nachdenke, wie du mir schreibst. Meistens denke ich nämlich vor dem Einschlafen über lauter Kleinigkeiten nach, die für mich aber bedeutend sind. Und ich drehe mich stets im Kreis. Sichere Schlüsse kann man ja nicht ziehen. Es ist eben alles relativ. Jeder hat seine eigene Wahrheit.
Das also war eine Philosophin. Sie drehte sich jeden Abend vor dem Einschlafen im Kreis und konnte keine Schlüsse ziehen. Da blieb nur das eine. Das Angenehme mit dem sozial Nützlichen verbinden.
Überredet! Diesen Brief werde ich mit der Hand schreiben.
Aber doch selbstverständlich. Weil ich die Farbe auf dunkelblau und die Schriftart auf palace script mt  umgestellt hatte, wollte mich Silke unbedingt sehen. Ich solle sie am Samstag bei C&A in der Lederwahrenabteilung besuchen, entgegnete sie, und ein Röschen mitbringen. Sie schickte mir wieder kein Foto von sich. Dafür meinte sie, sie sei klein, habe kurzes rotes Haar und einen Piercing in der Oberlippe.
Als ich das las, fragte ich mich, wie viele Abstriche ich noch machen musste.
Dennoch brach ich am Samstag zu ihr auf. Unterwegs kaufte ich in einer Tankstelle das Röschen und betrat C&A. Ich blickte mich um. Nach wenigen Sekunden sah ich hinten an der Kasse einen roten Haarschopf und eine gepiercte Oberlippe. Aha!
Ich näherte mich langsam. Wie ich das Röschen halten sollte, wusste ich nicht. Ich versteckte es einfach hinter dem Rücken. Zwei Schritte vor ihr blieb ich stehen. Ich begutachtete sie eingehend. Es schien mir unmöglich, dass sie meine Anwesenweit nicht bemerkte, aber das stupide Sortieren von Quittungen nahm sie offensichtlich furchtbar in Anspruch. Zum Glück. Sie schaute aus wie der Bruder von Elton John. Toleranzwert überschritten. Nur noch das Röschen unauffällig verschwinden lassen, vielleicht in irgendeinem dieser Körbe mit Tennissocken für 5,99 vor der Rolltreppe und dann nichts wie weg. Das dachte ich mir, als ein Mann auf meine Schulter tippte und ungeduldig fragte:
"Sie, Rosenkavalier, stehen Sie hier an oder was?"



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