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Der Meldeläufer
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Andreas Neuner
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Der Berg ist schön, dachte der Junge und schritt voran. Verdammt! Es fängt zu scheuern an. Diese Stiefel sind der letzte Dreck. Immer unter den großen Zehen. Das gibt wieder Blasen. Mist! Ich muss unbedingt die Stiefel tauschen. Irgendjemand hat bestimmt zu enge. Und ich schwimme in diesen Latschen. Na wenigstens ist es bald Mittag. Nur noch dieser Gipfel. Hoffentlich haben die dort einen anständigen Koch. Unser Küchenbulle taugt nichts. Ich wünsche mir nur einmal einen ordentlichen Eintopf mit ein paar
Fleischbrocken drin. Schöner Ausblick hier! Fast wie bei uns zu Hause. Es gehört ja auch zu uns. Wenn ich nur schon zu Hause wäre. In zwei Wochen fängt der Urlaub an. Wenn nur bis dahin alles gut geht. Der Vater wird mich zwar gleich wieder auf die Alm schicken wollen, aber, so Gott will, wird die Mutter was dagegen haben. Wenigstens gibt es dann was Ordentliches in den Magen. Die Armeekost hab ich satt. Nein, auf die Alm geh ich nicht gleich. Ich habe ja nur die eine Woche. Als erstes schlaf ich mich einmal richtig aus.
Außerdem bin ich jetzt Soldat und kein Bub mehr. Da wird der Vater staunen. Das hätte er nicht gedacht, dass ich wirklich gehen würde. Nun muss er mich als Mann behandeln. Vorsicht jetzt! Jetzt fangen die Almen an. Kaum Deckung hier. Aber das ist ja noch unser Abschnitt, hat der Major gesagt. Also vorwärts, es gibt keinen anderen Weg. So friedlich hier, lauter Blumen. Eine fette Weide wäre das, wenn nicht Krieg wäre. Hab richtig Lust, mich hier auszustrecken. Ein bisschen dösen, das wäre nicht schlecht. Sich die
Sonne auf den Pelz brennen lassen. Scheiße! Mein ganzes Leben renne ich diese Mistberge hinauf und hinunter. Ich wäre lieber zur Kavallerie. Das hat Stil. Das kommt bei den Mädchen gut an. Oder zu den Panzern. Gegen die Franzosen. Doch dafür müsste man Deutscher sein. Muss ja nicht unbedingt sein. Aber beim Einmarsch in Paris mitzumachen, dafür gäbe ich was. Paris! Und wir schlagen uns hier um ein paar Berge. Herrgott, wie die Sonne jetzt brennt! Der Aufstieg wird hart. Ich bin schon ganz durchgeschwitzt. Und wieder
wetzt mich der Riemen wund. Warum kann man den Gewehrriemen nicht breiter machen? So schneidet er ins Fleisch. Und ich hab nur zwei Schultern zum Tragen. Manchmal hätte ich Lust dieses Scheißding wegzuwerfen. ‚Das Gewehr ist des Soldaten Braut.´ Schwachsinn, Herr Major! Meine Braut wird bestimmt anschmiegsamer. Da vorne, eine scharfe Kurve. Mal sehen. Langsam. Sakra, ein Tal mit einem See mittendrin. Das war vorher ganz verborgen. Herrlich! Ein blaues Auge im Berggesicht. Ich mach einfach eine kleine Pause. So eilig ist
es nicht. Wirklich schön! Da unten würde ich gerne angeln. Der See füllt fast das ganze Tal. Ein Dorf und ein paar Wiesen gibt es noch. Das ist es! Ein Paradies. Vielleicht kann ich nach dem Krieg mal vorbeischauen. Ja, das tue ich. Weiter jetzt. Ganz schön steil hier. Das sind gut noch 200 Meter bis zur Spitze. Und das unter der Sonne. Das wird böse. Und kein Schatten. Das ist alles nur Wiese mit ein wenig Gebüsch mittendrin. Oben gibt es wenigstens ein Gipfelkreuz. Da kann ich Pause machen. Auf der anderen Seite
sollten ja schon unsere Männer liegen. Ob das mit dem Mittagessen noch klappt? Ich beeile mich besser. Mist! Verdammt uneben der Boden hier. Schmerzt in den Knöcheln. Aber, Geradeausgehen ist zu anstrengend. Also weiter in Serpentinen. Schritt, noch ein Schritt und noch ein Schritt. Ich will den See sehen. Da unten sein und baden! Und ich habe erst fünfzig Meter Höhe geschafft. Aber was? Da kommt jemand unten um den Grad. Wer? Verdammt! Das sind Italiener. Was tun? Mich hinlegen? Keine Deckung. Sie kommen in meine
Richtung. Weiter. Ich muss weiter. Immer aufwärts. Nicht zu schnell, sonst komme ich außer Atem. Sie haben mich noch nicht bemerkt. Ich schaffe es schon. "Alt!" Nein! "Alt! Noi spariamo." Ihr kriegt mich nicht. Ich habe einen guten Vorsprung. Ich muss nur den Gipfel schaffen. Aaah! Scheiße, mein Knöchel. Ausgerechnet jetzt. Das schmerzt wie Hölle. Sie schießen. Nicht noch einmal umknicken. Nur weiter. Der Schmerz brennt wie Feuer. Langsam geht es wieder. Gleich bin ich bei den Büschen.
Volle Deckung! Geschafft. Ihr kriegt mich nicht. Sie kommen. Mindestens zehn. Verdammt, was soll ich tun? Ich muss weg. Sie kommen. Ich habe Angst. Angst! Wohin kann ich? Gott! Bitte! Nicht, nein! Ich muss auf. Reiß dich zusammen! Der Gipfel ist nur ein paar Meter weg. Keine Panik. Du hast einen Vorsprung. Diese Scheiß-Itaker haben doch keine Ahnung von den Bergen. Sie kriegen dich, wenn du hier liegen bleibst. Los! Nur weg. Renne! Ich habe die Kraft. Ich bin schneller. Dort ist schon das Gipfelkreuz. Nur noch hundert
Meter. Jetzt kommt es außer Sicht. Ich bin nahe. Lauf! Aaah! Gefallen. Ich kann nicht mehr. Wo sind sie? Was, so nahe schon! Weiter. Mein Knöchel. Meine Lungen brennen. Verfluchte Sonne. Warum schießen sie nicht mehr? Nur einmal kurz schauen. Mir läuft der Schweiß in die Augen. Sie rennen auch. Nur weiter. Weg mit diesem Scheiß-Rucksack. Zur Hölle mit allen Depeschen. Nur ein Blick. Ich habe wieder wettgemacht. Aouhh. Gestürzt. Ich muss. Ich muss weiter. Mir ist schlecht. Kopf dreht sich. Weiter. Kann nicht. Bitte.
Ich renne. Der Weg ist endlos. Ich muss kotzen. Stehen bleiben und schießen. Wo ist mein Gewehr? Liegengelassen. Scheiße! Es geht besser. Ich schaffe es. Dreißig Meter noch. Aufpassen. Der Boden ist voller Erdlöcher. Ich hasse Murmeltiere. Nein! Daneben. Ich falle. Ich kann nicht. Ich kann nicht mehr. Mehr. Brauche Pause. Bitte. Lieber Gott. Vater. Ich habe Angst. Ich will nicht sterben. Kann nichts mehr halten. Muss pissen. In die Hose. Weiter, bitte geh weiter. Ich muss meine Hände benutzen. Schritt für Schritt. Auf
allen Vieren. Das Gras ist fest. Es hilft mir. Zieht mich hinauf. Ich falle den Berg hinauf. Weiter hinauf. Regen fällt. Er tropft mir die Nase herab. Alle diese Blumen. Sie drehen sich. Ich muss weiter. Warum? Ich bin müde. Unter mir, das ist ein schöner See. Ich möchte hinunterfliegen. Ich werde verfolgt. Von wem? Weiter. Es ist Krieg. Was ist das? Ich bin frei. Du kannst hier nicht stehen bleiben. Gut, ich laufe. Der Sonne entgegen. Da oben steht ein Kreuz. Aus festem Holz. Wie es bei uns zu Hause wächst. Heute werde
ich bald schlafen gehen. Weiter. Warum? Wovor habe ich Angst? Du wirst verfolgt. Sie werden dich töten. Wer? Deine Feinde. Ich krieche. Jetzt bin ich fast oben. Ich stehe wieder aufrecht. Da kommen Menschen hinter dem Kreuz hervor. Sie schwenken die Arme. Lauf! Wenn du den Gipfel erreichst, bist du sicher. Weiter. Die Sonne zersprengt mir den Kopf. "Alt!" Sie laufen auf mich zu. "Alt!" Der sieht aus wie mein Vater. "Vater!" Er lächelt mir zu. Ist auf der Jagd. Da ist er immer
glücklich. Ich hätte nicht weglaufen sollen. "Alt! Io spararo." Vater, pass mit dem Gewehr auf! Du wirst mich verletzten. Wirf es weg! "Ragazzo. Io sparo. Alt!" Vater! Ich komme! Heim!
SZENARIO: Der 16jährige Meldeläufer Martin Ehrhardt wurde an einem heißen Augustmittag im Jahre 1916 von zwei Kugeln in die Brust getroffen. Er verlor sein Leben oberhalb des Lago di Ledro im Trentino; einer Gegend, die während des Dolomitenkrieges zwischen Österreich und Italien schwer umkämpft
war. Weder er noch sein Kommandeur, Major von Hocheck, konnten von der geringfügigen Frontverschiebung wissen, die am Abend zuvor zugunsten der italienischen Streitkräfte eben jenen Gipfel betraf, den der junge Soldat nie erreichte.
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