|
Ich bin schon seit Jahren in dieser Stadt. Warum? Ich weiß es nicht mehr. Ich durchstreife sie jede Nacht. Ich unternehme lange Spaziergänge. Dabei drücke ich mich eng an die Mauern der Gebäude, denn meistens regnet es in der Stadt. Es ist ein feiner Regen, der wie Staub auf die Menschen herabschwebt und sie langsam durchnässt. Er lässt die Straßen glänzen, auf die immer Lichter fallen, da die Stadt nicht schläft. Ein Schatten unter vielen beobachte ich die anderen Schatten. Die Nacht schenkt ihren Begierden ein wenig Hoffnung. In der Dunkelheit erscheinen sie weniger hässlich, weniger wirklich.
In einer Bar habe ich sie eines Nachts gesehen. Ich ging dann öfters in die Bar, bis ich herausfand, dass ich sie dort nur am Sonntag Abend antreffen würde. Seitdem war ich jeden Sonntag dort. Sie hat mich nie bemerkt, auch nicht, wenn ich eintrat. Sie war viel zu beschäftigt mit der Gruppe Menschen, die sie umgab. Sie war einer dieser Menschen im Licht, die so anziehend auf andere wirken. Immer war sie im Mittelpunkt; umlagert von ebenso anziehenden Männern, die um ihre Gunst kämpften. Ich weiß nicht, was mich an ihr so beeindruckte. Ich hatte schon viele Mädchen in der Nacht gesehen. Sicher war sie schön. Doch hätte das nicht genügt. Ihr Reiz lag wohl eher in dem, was sie ausstrahlte. Ich war gefangen von ihrem Wesen, das das Gegenteil meiner Existenz darstellte.
Jeden Sonntag Abend musste ich in diese Bar gehen. Ich beobachtete jede Einzelheit ihres Mienenspiels, ihre Art, die Haare energisch zurück zu streichen, und wie sie mit der Zigarette zwischen ihren Fingern spielte. Ich nahm mir viel Zeit dazu. Besonders fesselte mich dieser Mund, wie er auf und zu ging in der Arbeit des Sprechens, und wie er sich dann auf einmal zu einem Lächeln verzog. Ich saß zu weit entfernt, um etwas zu verstehen. Aber das war nicht wichtig, denn ich verstand ja nicht einmal mich selbst, – meine übertriebene Faszination diesem Menschen gegenüber. Ich empfand Freude, sie zu sehen, und nicht nur Interesse wie üblich. Es machte mich fast glücklich zu bemerken, wie etwas nach so langer Zeit wieder meine Leidenschaft erweckte. Dieses Gefühl wieder Mensch zu sein, verführte mich zu dem unvernünftigen Entschluss, Kontakt aufzunehmen. Ich wollte mich bemerkbar machen, doch ich überlegte nicht warum.
Die Kraft meiner Leidenschaft ließ mich die Wirklichkeit vergessen. So wartete ich eines Sonntags, bis die Gruppe von Menschen, zu der sie gehörte, sich auf den Heimweg machte. Sie waren zu Fuß unterwegs. Ich folgte unauffällig. Langsam löste sich die Gruppe auf, und zuletzt war das Mädchen alleine. Lange Zeit bemerkte sie nicht, dass jemand sie verfolgte. Sie ging etwa 50 Schritte vor mir, und ich hörte ihre Absätze hart auf die feuchte Straße schlagen. Sie war in Eile, und ihre Beine, deren Formen durch die Nylonstrümpfe modelliert wurden, arbeiteten mit Schwung. Es war schon spät. Als sie mich bemerkte, sah ich das kurze Stocken in ihrem Gang. Ihre Schritte wurden unharmonisch, gezwungen. Sie drehte sich nur einmal um und das gleich, wie sie meine Anwesenheit wahrnahm. Ich spürte, dass sie mit aller Kraft auf eine bestimmte Haustür zustrebte. Trotzdem bemühte sie sich, nicht zu rennen. Auch ich beschleunigte meine Schritte. Ich musste sie vor der Tür erreichen. Sie rannte. Ich war außer mir. An der Tür holte ich sie ein. Erschrocken drehte sie sich um. Ich sah die Panik in ihren Augen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Da schlug ich zu. Es war ein fester Schlag, der sie zurücktaumeln ließ. Ich sprang ihr nach, wie sie gegen die Tür fiel, und fing sie auf. Meine Hände umschlossen ihre Taille. Ihr Gesicht, ihre Lippen waren so nahe. Ich musste sie berühren. Ich spürte das warme Fleisch, wie es zitterte, und ich schmeckte ihren Atem nach Rauch, Alkohol und ihr. Mein Kuss wurde nicht erwidert. Nur ein Hauch von Lippenstift klebte auf meinem Mund. Mein Blick traf auf ihre Augen. Sie waren benommen. Doch dann sah ich, wie langsam ein Erkennen und eine tiefe Angst in ihnen emporstieg. Erschrocken ließ ich sie los. Ich hätte gerne gesprochen, aber ich habe das Sprechen verlernt. Meine Nächte haben mich stumm gemacht. Auch sie sagte nichts, sondern atmete gehetzt. In ihren Augen konnte ich lesen, welche Monstrosität ich für sie darstellte. Sie öffnete den Mund und schrie. Ich lief in Panik davon.
Auch die Tage und Wochen danach streifte ich durch die Stadt. Jede Nacht lief ich die Straßen entlang. Aber ich mied alle Kneipen und sonstigen Treffpunkte, wo Menschen verweilten. Denn ich erlebte ein neues Gefühl; das der Angst. Ich hatte Angst, dass man mich suchen würde. Nur mühsam fand ich meine frühere Ruhe wieder. Schließlich betrat ich wieder die Nachtlokale. Ich besuchte auch wieder die Bar, wo ich sie getroffen hatte. Und eines Sonntag Abends war sie da.
Es hatte sich nichts verändert. Sie war begehrt, und die Welt der Menschen drehte sich um sie. Sie hatte sich nicht verändert. Oder doch? Sie war aufmerksamer geworden. Sie beobachtete und schaute in die Schatten. So fand sie mich schließlich. Das Lokal war voller Rauch, und ich versuchte, mich dahinter zu verstecken. Aber sie hatte mich erkannt. Unsere Blicke waren einen Moment lang ineinander gefangen. Ihre Augen sprachen zu mir von Angst, Ekel und Hass. Dann sah ich, wie sie auf die Männer in ihrer Begleitung einredete und auf mich deutete. Zwei standen sofort auf und gingen auf mich zu. Ich sah die Wut auf ihren Gesichtern. Ich zog den Dolch, der sich schon seit Ewigkeiten in meinem Spazierstock versteckte. Der Stock war ein antikes Stück, ein Erbe meiner Familie. Ich stach dem ersten in den Bauch. Er war sehr jung und sehr erstaunt, als ihn der Schmerz traf. Der andere wollte dazwischen gehen, und so traf ihn mein zweiter Stich in die Rippen. Ich spürte den Widerstand, den das Metall durchdringen musste. Danach schien es, als hörte die Welt auf zu atmen. Alles verharrte still.
Das Mädchen war auch auf mich zugeeilt und dann abrupt stehen geblieben. Ich zog sie an mich und sah wieder diese benommen, angsterfüllten Augen. Doch als ich sie diesmal küsste, schlossen sie sich für einen Moment. Ihr Körper wurde weich und drückte sich mit seiner Wärme an mich, und ihre Lippen öffneten sich. Ein unglaublich kurzer Moment, dann erstarrte sie. Alles an ihr gefror, und ihre steifen, spröden Lippen klagten mich der Gewalt an, mit der ich sie küsste. Ich ließ sie los. Die Welt kam wieder in Bewegung, schrie. Ich drängte mich aus der Bar und rannte in die Nacht. Keiner wird mich dort finden. Ich bin die Nacht dieser Stadt.
< zurück
|
|