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Der kleine Planet

Bertrand LeBert



Es traf uns im Sommerloch. Völlig unbemerkt von den großen Teleskopen stand oder vielmehr: hing plötzlich ein neuer Planet vor unserer Tür, im Sonnensystem. Offenbar nichts von ordentlichen Kreisbahnen haltend, zog er direkt auf die Erde zu.

Bei uns herrschte natürlich große Aufregung, hatte sich doch die vor kurzem vom amerikanischen Präsidenten ernsthaft als globale Bildungsstätte bezeichnete Bilderschmiede Hollywood mit einem Blockbuster wieder einmal des Themas "Kollisionsgefahr – gut für die Liebe" angenommen.

Die Aufregung war also groß, die verschiedenen Glaubens- und Lebensleitsysteme führten zu unterschiedlichen defensiven, offensiven, optimistischen oder pessimistischen Verhaltensweisen – so führten evangelische und katholische Kirche in Irland spontan einen gemeinsamen Gottesdienst durch – als etwas noch beeindruckenderes geschah:

Der Planet funkte, er habe vor zu bremsen.

Und tatsächlich: Jemand oder etwas parkte den Planeten in einer Umlaufbahn um die Erde. Kurz gesagt: Wir waren nicht allein und so weiter. Die Schule fiel aus, gemeinsame Gottesdienste, politische Versammlungen. Die Internet-Server, die den Bildschirmschoner SETI (Search for extraterrestrian intelligence) anboten, brachen komplett zusammen, und Invasionsfilme erlebten einen erneuten Frühling.

Von den Wissenschaftlern ganz zu schweigen. Sämtliche verfügbaren Erdüberwachungssatelliten wurden in die andere Richtung gedreht und lieferten atemberaubende Bilder. Die Bewohner des anderen Planeten schienen ähnlich entzückt. Also keine Gefahr.

Doch der Gipfel der Sensationen war schließlich, als uns Erdenbewohnern bewußt wurde, daß der Planet – ganz abgesehen von einem fantastischen Antriebssystem – die nächste Stufe der Evolution erreicht hatte: das globale Bewußtsein. Alle Individuen (gut 12 Milliarden) bildeten ein neuronales Netzwerk der nächsten Generation. Ein Über-Hirn.

Die Erde dachte darüber nach, und manch Bürgermeister, der schon in der Vergangenheit die Fortplanzungsfreudigkeit seiner Bürger mit diversen Mitteln anzuheben versucht hatte – Stadtfördergelder waren nun einmal von Einwohnerzahlen abhängig – sah sich bestätigt. Die ersten spontanen Massenorgien entstanden. Ob die Meldungen, der Vatikan hätte damit angefangen, stimmten, war im Nachhinein nicht so genau zu sagen.

Nach so vielen Höhenflügen geistiger, wissenschaftlicher und entwicklungsbiologischer Art war die Ernüchterung groß, als unsere nächste Entwicklungsstufe, unser glorreiches Ziel vor Augen, das Idol vieler, durch ein paar dahergefunkte profane Sätze ein äußerst schlichtes Gemüt offenbarte.

Die Menschheit, enttäuscht bis in die Knochenmarkzellen, begann einen Krieg.



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