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Wie aus einem wilden Türken ein braver Rückersdorfer wurde
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Andreas Neuner
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Das Leben in dem fremden Land wurde vertrauter. Die tägliche Arbeit gemeinsam mit den anderen Knechten, mühselig und sich wiederholend, half Ibrahim in seiner Einsamkeit. Nach der anfänglichen Aufregung ließen ihn die Leut´ jetzt meist in Ruhe, und da er gut mit anpacken konnte, erntete er immer öfters ein wohlwollendes Lächeln von diesem und jenem. Auch bekam er ordentlich zu essen. Und da gab es noch Marga. Das war ein fülliges, junges Weib, wie es jedem Mann recht gefallen musste. Immer am Morgen, wenn er
alleine im Stall das Vieh seiner Herrschaft versorgte, kam sie wie zufällig herein und schritt mit wiegenden Hüften an ihm vorbei. Wenn er ihr dann nachstarrte, drehte sich Marga, die nur darauf gewartet zu haben schien, um und rief herausfordernd: "Was glotzt Er da? Arbeiten soll Er, der Kümeltürk!"
Oft musste Ibrahim in dieser Zeit an seine Mutter denken. Das gesamte osmanische Ungarn war zu einem Schlachtfeld geworden und brannte lichterloh. Gott, du bist der einzige und der größte, betete er
darum, halte deine Hand schützend über ihr. Gewähre ihr deine Gnade, denn sie ist die Güte in Person. Gelobt seiest du Gott! "Mutter", murmelte Ibrahim traurig auf ungarisch. Denn seine Mutter war eine ungarische Bäuerin, und lange bevor er türkisch lernte, hatte sie ihn in ihrer Sprache liebkost. Während er den Stall ausmistete, sah er sie vor seinem inneren Auge. Er sah sie, wie sie die Stube ihres niedrigen Wohnhauses ausfegte, oder, wie ihre rauen Hände den Teig kneteten, um ihn dann zu Brot zu
backen. Diese kleine, alte Frau mit der hellen Haut, dem runden Kopf und ihren blauen Augen war sein Heim. Das einzige, was er besaß. O Gott, beschütze sie! Aische wurde die Mutter vom Vater genannt. Und erst, als er schon beinahe erwachsen war, hatte Ibrahim erfahren, dass dieser Name nicht ihr richtiger war. Doch obwohl er sie darum bat, verriet ihm seine Mutter niemals ihren alten Namen, sondern beharrte darauf, dass sie Aische hieße; und das sei vor Gott ihr einziger Name! In ihrer Jugend war sie eine
Christin gewesen, doch dann, als Frau eines türkischen Soldaten, wurde sie Muslima. Obwohl sie weder von der Bibel noch vom Koran jemals eine Ahnung besessen hatte, gestand sich Ibrahim ein. Seine Mutter glaubte jedoch aus vollem Herzen an Gott, das wusste er, und auch an ein Dutzend Geister, Teufel und Heilige noch dazu. Ibrahim dagegen war von Achmed, seinem Vater, zur Koranschule geschickt worden, wo er Suren in einer fremden Sprache auswendig lernen musste, die ihm sein Lehrer, ein weißbärtiger, einarmiger
Janitschar, kaum erklären konnte. Immerhin wusste er nach dem Ende seiner kurzen Schulzeit soviel, als dass der wahre Gläubige sich im Kampf gegen die Christen auf der anderen Seite der Grenze beweisen musste, wie sein Vater es tat. Achmed diente als Sipahi, so hießen die Reiter im Heer des Sultans. Er war ein dunkelhäutiger Türke von jenseits des Bosporus´, – aus einem sonnenverbrannten Land, dessen Aussehen sich Ibrahims Vorstellungswelt entzog. Der Vater war ein düsterer Mann. Er sprach nicht viel, schlug seinen
Sohn dafür um so häufiger. Wenn er denn zu Hause war. Da er sich oft auf Kriegszügen und Überfällen befand, und es manchmal monatelang dauerte, bis er wieder in das Grenzdorf, wo seine Truppe ihr festes Quartier hatte, zurückkehrte. In diesen Zeiten, wenn der Vater unterwegs war, lebte Ibrahim unbeschwert. Doch immer, wenn das asiatische Gesicht mit dem mächtigen schwarzen Schnauzbart und den ebenso schwarzen Augen wieder die Bauernkate seiner Mutter betrat, wurde zwar sein Magen satt, aber sein Herz beklommen. Trotz
all seiner Abneigung bewunderte Ibrahim den Vater doch insgeheim. Achmed war tapfer, und das war an der Kriegsgrenze das wichtigste. Oft schaute er dem Vater zu, wie der den langen Krummsäbel mit dem juwelenbesetzten Griff immer wieder vom Rost und von allen Blutflecken blank wienerte, um danach die Klinge geduldig mit dem Wetzstein zu schärfen. Das schleifende Geräusch des Steins auf dem Stahl bohrte sich für alle Zeiten in Ibrahims Gehör und blieb verbunden mit dem Handwerk, das sein Vater anscheinend mit Hingabe
betrieb. So wunderte es schließlich niemanden, am wenigsten Ibrahim selbst, dass er sich, kaum ein Mann geworden, anmustern ließ. Und da er von Kindheit an Reiten gelernt hatte, wurde er ebenso wie sein Vater Achmed ein Sipahi unter der roten Fahne des Halbmonds. Doch wenn ihm das Reiten auch leicht fiel, war ihm das Töten anfangs um so schwerer. Sein erster Kampf war die Eroberung der Stadt Kaschau in Deutschungarn. Gemeinsam mit den Kuruzzen des Grafen Imre Tököly fielen die Sipahis dort ein und schlugen von ihren
Pferden herab auf alles ein, das sich vor den Hufen bewegte. Die ungarischen Adeligen und die slowakischen Bauern wehrten sich redlich, doch am Ende wurde es eine rechte Metzelei. Als Ibrahim seinen ersten Schädel spaltete und danach den festgeklemmten Säbel zwischen den Augen seines Opfers herauszerren musste, wollte ihm schier seine letzte Mahlzeit nach oben kommen. Aber seltsamerweise gewöhnte er sich mit der Zeit an sein Handwerk; – wie er sich wohl auch hier im Land der Deutschen als Leibknecht eingewöhnen würde. "Heh,
Er soll nicht tagträumen, arbeiten soll Er!" Die freche Stimme Margas schreckte Ibrahim aus seinen Gedanken auf. "Denkt Er etwa an seinen Harem im Türkenland? Tja, seine Weiber, die kann Er getrost vergessen. Jetzt lebt Er in einem christlichen Land, wo Sitte und Anstand herrschen." Ibrahim betrachtete die Magd, die sich mit den Händen in den Hüften vor ihm aufgebaut hatte, und blieb schließlich mit seinem Blick an ihrem Mieder haften. Er hatte schon als Soldat im Grenzland viele Brocken Deutsch
aufgeschnappt und verbesserte sich hier in Rückersdorf Tag für Tag. So erwiderte er jetzt ohne große Mühe, wenn auch stockend: "Jungfer Marga, meinen Harem hab ich verloren, – das stimmt. Doch", und nun schaute er der Frau freimütig in die Augen, "ein Blümlein wie Sie war eh nicht darunter, so sittsam und anständig." "Will Er mich foppen?", brauste Marga auf. "Blümlein, was meint Er damit?" "Doch nur, dass Sie so schön wie die großen, goldenen Blumen ist, die unten
am Fluss auf den Wiesen wachsen. Golden wie euer Haar und weich und rund wie eure Gestalt! Wie gerne ich dieses Blümlein pflücken möchte." "Werd´ Er nicht frech!", sagte Marga kurzatmig. Aber dann lächelte sie und war ihm offensichtlich nicht böse. Geschwind wandte sie sich ab und wollte weggehen. Doch nach ein paar Schritten drehte sie sich wieder um und rief laut: "Kümeltürk!" Danach rannte sie aus dem Stall. Trotz der Beleidigung musste Ibrahim lachen. Ein Lied summend, machte er
sich weiter ans Ausmisten, träumte dieses Mal jedoch von den Funken in Margas erhitzten Augen. Die blauen Augen seiner Tochter Elli leuchteten ihn an, wie es vor vielen Jahren die Margas getan hatten. Das Kind, keine acht Jahre alt, saß auf seinem Schoß und bettelte mit Augen und Worten: "Ach bitte, bitte, erzähl doch von der großen Schlacht! Und von den Schätzen des Großwesirs und von seinen achthundert Frauen! Bitte Vadder, erzähl mir davon!" "Aber das hab` ich dir schon so oft
erzählt." "Das macht nichts. Ich hab` schon wieder alles vergessen. Bitte!" Bei diesem letzten flehenden Bitte musste jeder Widerstand dahinschmelzen. "Na gut, meine kleine Maus. Aber hör wenigstens genau zu, damit du mich nachher nicht wieder mit Fragen löcherst." "Versprochen!" "Also, wir versammelten uns damals vor einer Stadt namens Belgrad. Dort wollte der erhabene Sultan und sein Großwesir ihre Soldaten zählen und mustern. Ich war gerade ein gutes Jahr ein Reiter
des Sultans, jung und stolz, – du hättest mich sehen sollen. Ich besaß ein prächtiges Pferd und einen Säbel aus damaszener Stahl, und ich fühlte mich unschlagbar. Mit meiner Truppe war ich von der nördlichen Grenze her nach Belgrad kommandiert, um beim Einzug des Heeres des Sultans Spalier zu stehen. Zwölftausend Janitscharen und viertausend Sipahis empfingen Mehmed den vierten seines Namens, und ich stand mitten unter ihnen. Nie mehr in meinem späteren Leben habe ich jemals wieder so viele Menschen und soviel
Pracht gesehen. Kolonne auf Kolonne, scheinbar endlos, marschierten die Krieger Allahs vorbei. Aus dem ganzen Osmanenreich waren sie herbeigeströmt. Die Offiziere ritten auf Pferden, deren Zaumzeug mit Samt und Silber ausgeschlagen war. Besonders die Janitscharenobersten mit ihren glänzenden Harnischen und den halbmondförmigen Reiherbüschen auf ihren Filzhauben fielen in dem farbenprächtigen Gewimmel auf. Jeder Kompanie folgte ein Koch im Hauptmannsrang, der von silbernen Löffeln und Messern nur so klirrte. Hinter ihm
schritt dann das restliche Versorgungspersonal, das beinahe ebenso viele Köpfe zählte wie die kämpfende Truppe. Als nächstes lenkte der Großwesir alle Blicke auf sich. Er ritt auf dem herrlichsten Pferd, das je ein Menschenauge erblicken durfte. Schneeweiß war das Tier, und seine Zügel und Bügel waren aus vergoldetem Silber. Der Großwesir selbst trug einen kostbaren Scharlachmantel, der mit Zobelpelzen gefüttert war. Eine Leibwache von achtzig Pagen im Panzerwams und mit Bambuslanzen und von weiteren fünfzig
mit Flinten umgab ihn. Dann Elli, wären dir die Augen aus dem Kopf gefallen, denn nun wurde die Sänfte des Herrschers über alle Gläubigen vorbeigetragen. Ganz und gar mit Seide, Brokat und goldenen Verzierungen war die Sänfte überzogen. Und mittendrin in all dieser Pracht saß der mächtige Sultan in seinen schönsten Gewändern und schaute finster drein. Grüblerisch hielt er die Augen zu Boden gesenkt und beachtete uns mit keinem Blick. Man erzählte aber unter den Soldaten, dass er seine Augen nur hebe, wenn er
zornig sei und sie dann rolle wie ein wildes Tier. Ebenso wie den Großwesir umringte den Sultan eine große Leibgarde von berittenen Pagen. Direkt hinter seiner Sänfte jedoch schritten die beiden heiligen Kamele. Das eine trug einen reichverzierten Koran und das andere ein Stoffstück vom Umhang der Kaaba in Mekka." "Wo bleiben die Frauen des Sultans? Früher hast du immer erzählt, dass sie bei der Parade dabei gewesen sind", unterbrach Elli die Rede ihres Vaters, da sie offensichtlich nichts von
heiligen Kamelen wissen wollte. "Geduld, mein Engel! Gleich hinter dem Sultan kam sein Harem und auch der des Großwesirs. In hundert kostbar ausgestatteten Wagen fuhren seine Gemahlinnen an uns vorbei. Die Kutsche der Lieblingsfrau des Sultans besaß sogar Speichen aus purem Silber. Das Gefolge des Großwesirs war kaum weniger umfangreich, denn fünfzehnhundert Haremsfrauen mit siebenhundert schwarzen Eunuchen als Wächter begleiteten ihn in den Krieg. Unter uns Soldaten spotteten manche nach diesem Aufmarsch, daß
das Heer der Weiber wohl nicht viel kleiner als das der Männer sei." "Und hast du die Prinzessinnen gesehen? Waren sie schön?" "Nein, nein, – die Frauen waren alle streng verschleiert. Niemand außer ihren Ehemännern und den Eunuchen darf sie sehen. Jedem anderen ist es bei Todesstrafe verboten." "O wie schade!" Ellis Vater musste lachen: "Ja, vielleicht. Nach den Frauen allerdings war noch lange nicht Schluss, viele tausend Soldaten kamen noch. Man sagte, dass unser
Heer zweimal hunderttausend Mann zählte. Es war die größte Streitmacht, die das Osmanenreich je aufgestellt hat. Die Rossschweife, unsere Kriegszeichen, flatterten im Wind. Alle schwelgten wir in einem unbeschreiblichen Hochgefühl. Wir wollten das türkische Reich erneut auf den Gipfel der Macht führen, die Ungläubigen vernichten und den deutschen Kaiser besiegen. Nach Wien, seiner Hauptstadt, ging unser Zug, um das zu vollenden, was Sulaiman der Gesetzgeber schon einmal ohne Erfolg versucht hatte. Wie einst
Konstantinopel das Ziel aller Wünsche unserer Vorfahren gewesen war, träumten wir nun vom Reichtum Wiens und von den fetten deutschen Ländern dahinter. Die Stadt musste fallen, damit unser Reich leben konnte." Erschrocken blickte Elli zu ihrem Vater hoch, der sich in die Hitze seiner Vergangenheit zurück-gesprochen hatte. Als der die großen Augen bemerkte, zügelte er sich wieder. Er lächelte zärtlich: "Keine Angst, meine Kleine. – Also, wo war ich? Ja, ich zog mit dem ganzen riesigen Heer gegen Wien. Unser
Sultan Mehmed allerdings blieb in Belgrad zurück, ließ sich dort von seinem Harem verwöhnen und wartete auf die Nachricht unseres Sieges. Und auch der deutsche Kaiser war nicht tapferer, sondern hatte Fersengeld gegeben. Mit Kutschen, Kaleschen und schweren Wagen war er in Windeseile zusammen mit seinem Hofstaat, den Prinzen und Prinzessinnen und vor allem seinen Schätzen aus Wien geflohen. Als das türkische Heer den Belagerungsring um seine Hauptstadt schloss, war er schon Hunderte von Meilen entfernt in Sicherheit. Da
siehst du, Elli, weder der Kaiser der Christen noch der Beherrscher der Muslime hatten den Mut für ihre Sache zu kämpfen. Das überließen sie uns, den einfachen Männern auf beiden Seiten. Unser Oberbefehlshaber vor Wien war jetzt alleine der Großwesir Kara Mustafa, und der war aus anderem Holz als der Sultan. Während der Belagerung sah ich ihn oft aus der Nähe, denn mein Regiment diente als seine erweiterte Leibwache, wenn er Laufgräben und Schanzen, die das Heer um Wien grub, abritt. Schon der Anblick Kara
Mustafas flößte einem Unbehagen ein. Er war ein kraftvoller Mann mit düsterem Gesichtsausdruck, dunkler Haut und einem pechschwarzem Vollbart. Eine Handbewegung von ihm genügte und der Henker tat sein blutiges Handwerk. Wo Kara Mustafa stand und ging, gab es Hinrichtungen. Selbstherrlich wie ein Gott thronte er oft auf seinen Diwankissen, um genussvoll zuzuschauen, wie die abgeschlagenen Köpfe davon rollten. Es traf Gefangene ebenso wie Soldaten und Offiziere unseres Heeres. Wer auch immer seinen Unwillen erregte,
verlor den Kopf. Alle waren wir in Angst, wenn uns der Blick des Großwesirs streifte." "Ein böser Mann!" "Ja, und auch noch ein dummer in seiner Hochmut, wie sich herausstellte. Denn Kara Mustafa machte für alle die Belagerung zur Hölle. Zuerst waren wir noch siegesgewiss, als wir die wenigen Verteidiger auf den Mauern von Wien sahen. Beim Anblick der weißen Perücken unserer Gegner hörte ich sogar, wie sich der Großwesir mit einem geringschätzigen Lächeln an seine Obersten wandte und
fragte: Wer sind diese Mädchen? Doch diese Mädchen kämpften wie die Teufel um ihr Leben. Obwohl unsere dreihundert Kanonen wochenlang aus allen Rohren schossen, und ganz Wien in Pulverdampf und Rauchsäulen gehüllt war, hielten die Wälle doch stand. Ein fähiger oder listiger Feldherr hätte die Stadt wohl trotzdem innerhalb eines Monats erobern können. Kara Mustafa jedoch versuchte es allein mit Gewalt und wollte die Verteidiger mit der schieren Masse seiner Soldaten einfach erdrücken. Verluste an Menschen und
Material waren ihm gleich. Er befahl Sturmangriff auf Sturmangriff. Dabei schickte er seine besten Soldaten ausgerechnet gegen die stärksten Bastionen und ließ dort seine Elitetruppen verbluten. Da nützte es auch nichts, daß der Großwesir schließlich selbst in die Gräben stieg und seine Janitscharen mit blankem Säbel anfeuerte. Zwei volle Monate ging das so und der Blutzoll war riesig. Noch immer wehrte sich Wien. Allerdings hatten wir nun viele Christen gefangen genommen, die uns verrieten, wie fürchterlich es
in der Stadt aussah. Nur noch viertausend Verteidiger kämpften. Der Rest war gefallen, verwundet oder an der Ruhr gestorben. Die Wiener fraßen ihre Hunde, Katzen und Ratten, und auch Gras und Laub wanderten schon in die Kochtöpfe. Die Stadt schien reif für einen letzten, großen Sturmangriff. – Und wir hätten Wien gewonnen, wenn nicht die christlichen Entsatzheere gekommen wären!" "Jetzt kommen die Gottesritter, nicht wahr? Der König von Polenland und der tapfere Prinz Eugen!" "Ja doch",
sagte Ellis Vater zerknirscht, als er die Freude seiner Tochter sah. "Aber Prinz Eugen war damals noch jung und völlig unbekannt. – Wie auch immer, die Christen kamen, und Kara Mustafa in seinem Hochmut hielt ihren Vormarsch und die Vereinigung ihrer verschiedenen Armeen nicht auf, sondern ließ weiterhin Wien belagern. Erst als Signalraketen vom nahen Berggipfel emporstiegen, wußten wir Soldaten, was passiert war. Der rechte Zeitpunkt zur Erstürmung der Stadt war versäumt, nun galt es zuerst eine offene
Feldschlacht zu schlagen. Hastig riefen uns die Offiziere von den Posten in den Laufgräben und hinter den Schanzen ab. Doch noch sollte eine weitere Nacht bis zum alles entscheidenden Kampf vergehen. Ich konnte keinen Schlaf finden." "Hattest du Angst?" "Natürlich hatte ich Angst. Niemand wusste, wie groß die feindliche Armee war, und außerdem waren wir von der langen Belagerung erschöpft und entmutigt. Trotzdem stellten wir uns am nächsten Morgen tapfer zur Schlacht. Der Großwesir blieb mit
seinen Obersten im Zentrum des Heeres. Wir Sipahis bildeten mit unseren Pferden ein Bollwerk um den Generalstab. Vor uns standen die besten Fußsoldaten des osmanischen Reichs, die Janitscharen, zu Tausenden, am rechten Flügel rückten die christlichen Vasallenfürsten der Walachei und der Moldau sowie die Kuruzzen vor, und auf der linken Seite ritten die wilden Horden des Tatarenkhans. Wir waren immer noch eine gewaltige Streitmacht. Der klare Spätsommertag hatte gerade begonnen und die unzähligen Rüstungen und
Standarten glänzten und leuchteten in der Sonne, – ein herrlicher Anblick – , da gellte der Schlachtruf der Janitscharen und brüllend griffen sie an. Gott um Beistand anrufend, feuerten sie ihre Flinten ab, warfen diese dann flink über den Rücken und zückten ihre furchtgebietenden Krummsäbel. Ja, sie waren in Wut und wollten alles kurz und klein schlagen, wie sie es schon seit Jahrhunderten osmanischer Herrschaft taten. Im Laufschritt brachen sie nach vorne und jagten die erste Reihe der Feinde mühelos in die Flucht.
Dann jedoch begann das mörderische Gewehrfeuer der Christen. Wie ein Hagelsturm peitschte es über die Janitscharen und fegte sie zu Boden. Ihre Gewehre waren unseren Musketen an Feuerkraft und Reichweite bei weitem überlegen. Da hatten wir nichts entgegenzusetzen. Dann donnerten die christlichen Panzerreiter heran. Sie ritten über die zusammengeschossenen Janitscharen hinweg mitten in die geballte Front der Sipahis. Einem Keil gleich durchstießen sie unsere Linien, teilten uns und stürmten geradewegs auf die grüne
Prophetenfahne zu, wo Kara Mustafa seinen Kommandoposten hatte. Und nun geschah das Unglaubliche, dieser grausame Mann wurde zum Feigling, warf jäh sein Pferd herum und preschte, ohne sich weiter um die Schlacht zu kümmern, davon. Kurz darauf floh das ganze türkische Heer in wilder Panik. Es gab kein Halten mehr." "Und dann haben sie dich gefangen?" "Nein, noch lange nicht. Ich flüchtete mit den anderen zurück nach Ungarn. Dort formierten sich unsere Truppen erneut, und es sollte noch drei
düstere Jahre bis zu meiner Gefangennahme dauern, in denen wir Schlacht um Schlacht verloren. Zuvor aber erlebte ich wenigstens noch die Genugtuung, dass der Hauptschuldige an unserer Niederlage, der von Gott verfluchte Kara Mustafa, seine Strafe erhielt. In Belgrad wurde er auf des Sultans höchsteigenen Befehl hin mit einer seidenen Schnur erwürgt. So fand der Großwesir sein verdientes Ende." "Und deine Gefangennahme?" "Das war in Buda. Ich war einer der Verteidiger der Stadt, doch es war
hoffnungslos. Die feindliche Kanonade schoss die Stadt regelrecht zusammen. Ganze Bastionen flogen in die Luft, und schließlich war alles nur noch ein einziger Trümmerhaufen. Dann stürmten die Christen. Sie hatten den letzten Widerstand schon in Blut ersäuft, als sie mich fanden. Ich hatte mich unter dem Schuttberg eines Hauses verkrochen und hoffte, in der Nacht zu entwischen. Doch Gott wollte es, dass ein Trupp Dragoner auf mich aufmerksam wurde. Das Schwert am Hals führten sie mich vor ihren Hauptmann. Stolz
postierte sich der in seiner schönen blauen Uniform mit Goldlitzen vor mir und musterte mich abschätzig. So wurde ich ein Leibknecht des Dragonerhauptmanns Gottlieb Tucher von Simmelsdorf." "Ibrahim", erscholl es laut von draußen in den Stall hinein. Und dann wieder, jetzt näher und zornig: "Ibrahim, wo steckst du Haderlump?" Aufgebracht betrat der Dragonerhauptmann Gottlieb Tucher den Stall seines Landschlösschens. "Ibrahim, ich komme gerade aus Nürnberg geritten. Mein Pferd, -
es muss trocken gerieben werden. Sofort! Ibrahim, willst du den Stock auf deinem Pelz fühlen?" Doch niemand gab Antwort. Statt dessen hörte der Hauptmann aus der Tiefe des düsteren Stalls ein unterdrücktes Stöhnen. Unsicher fragte Gottlieb Tucher daraufhin in den scheinbar leeren Raum: "Ibrahim, bist du das?" Dann trat er ein paar Schritte näher. Doch nun war es völlig still, so als ob jemand auf einmal die Luft angehalten hätte, um ja keinen Laut von sich zu geben. Unheimlich, dachte der Hauptmann
und wollte schon anderswo suchen gehen, da er glaubte, dass seine Ohren ihm einen Streich gespielt hätten. Da plötzlich knisterte es laut und deutlich im Stroh und jemand nieste. "Ibrahim, du Hundsfott!", schrie der Dragonerhauptmann wutentbrannt und stürzte auf den großen Heuhaufen im hintersten Eck des Stalls zu. "Du willst mich foppen? Na, dir werd´ ich´s zeigen!" Schon hatte er den Heuhaufen erreicht, und schlug und stocherte kräftig mit seiner langen Reitgerte darauf und darin herum. "O
Herr, nein, nicht!", jammerte und tönte es daraus hervor. "Na, willst du wohl ´raus kommen", rief der Hauptmann gerade voller Triumph, als er auf einmal unverhofft das nackte weiche Hinterteil einer Frau vor sich sah. Gleich danach tauchte das dunkle, schnurrbärtige Türkengesicht seines Leibknechtes Ibrahim aus dem Heu auf. Und dann zu guter Letzt in all dem Gewirr von entblößten Beinen, Armen, Stroh und Heu das zutiefst erschrockene Antlitz der Marga Malterin. "Ja Himmelherrgottsacra!",
entfuhr es dem Dragonerhauptmann Gottlieb Tucher und er verstummte. Nach diesem Ausbruch fehlten ihm erst einmal die Worte. – Seine Magd mit dem Türken im Heu! – Dann überkam ihn wieder der Zorn und er brüllte los: "Dir werd´ ich den Buckel versohlen! Brauchst gar nicht weglaufen, dich krieg´ ich! Bleib steh´n, vermaledeiter Heide!..." "Die Heiden! Jetzt rennen sie, was sie können zurück nach Asien. Der edle Ritter Eugenius treibt sie vor sich her und schmeißt sie aus Europa hinaus. Lange genug
haben sie uns gepiesackt, lange genug!" Der Mann hatte von seiner abendlichen Schnitzarbeit, die er vor seiner Haustüre verrichtete, aufgesehen, als Pfarrer Rupprecht derart aufgeregt sprechend von der Dorfstraße her zu seinem Haus geeilt kam. Jetzt fragte er ruhig: "Was ist denn los? Der Herr Pfarrer ist ja ganz außer sich." "Ja weißt du´s noch nicht Christian? Belgrad ist gefallen. Prinz Eugen hat die Stadt wiedererobert, und diesmal wird er sie halten. Ihre stärkste Festung haben die
Türken verloren. Welch ein Triumph! Dass ich das noch erlebe!" "Belgrad sagt Ihr, Herr Pfarrer. Ja, das ist fürwahr eine mächtige Feste gewesen, wie ich´s mit eigenen Augen gesehen habe." "Himmel, Christian", rief der Pfarrer entrüstet, als er die verhaltene Reaktion seines Gegenüber sah, "nun lebst du schon über zwanzig Jahr bei uns im Dorf, bist wohlgelitten und geachtet, ein guter Christ und freust dich trotz alledem noch immer nicht, wenn die Christenheit einen großen Sieg
über die Heiden erringt." "Herr Pfarrer, es sind halt meine Leut´." "Nichts da, hier bist du zu Hause. Die Christenheit ist jetzt deine Familie. Eine Familie, die im Schoß Gottes ruht." "Auch die Muslime sind Menschen, die an den Einen Gott glauben." "Doch der Glaube der Mohammedaner ist voll von Irrlehren, die geradewegs aus Satans höllischem Geist entspringen." "Pfarrer Rupprecht, ich will Euch nicht widersprechen, aber immer behaupten die Menschen ihr Glaube
sei der wahre und der der anderen ketzerisch und teuflisch. So gibt es bei den Muslimen Sunniten und Schiiten und noch andere Überzeugungen, und hier Katholiken und Protestanten und in Ungarn auch noch Orthodoxe, – und einer schlägt dem anderen im Namen des Einen Gottes den Schädel ein. Ob das der Wille des Höchsten ist?" "Ach Christian, auch wenn die Wege Gottes unbegreiflich sind, dürfen wir doch nicht zweifeln." "An Gott zweifele ich nicht, eher schon an seinen Geschöpfen. Wisst Ihr, was
die christlichen Bauern an der ungarischen Grenze zu meiner Zeit sagten? Ich will´s Euch erzählen. Lieber hundert Türken im Dorf als zehn Österreicher, sagten sie. Und warum? Ausgeplündert haben die Türken die Bauern ebenso wie die Österreicher, aber unter osmanischer Herrschaft konnte jeder Christ wenigstens glauben, was er wollte. Der Kaiser in Wien dagegen zwang all seinen Gebieten den katholischen Glauben auf. Wer nicht katholisch werden wollte, musste hohe Sondersteuern zahlen. Evangelische Pfarrer und Lehrer
wurden vertrieben und durch Katholiken ersetzt. Auch in den orthodoxen Kirchen der Serben lasen die Priester den verblüfften Bauern die Messe auf Latein. Kein Wunder, dass da viele Christen, – Ungarn, Serben und darunter auch viele Adelige – , flohen. Und wohin glaubt Ihr wohl, gingen sie? Stracks zu den Türken über die Grenze, um von dort aus gegen ihre eigenen Christenbrüder zu kämpfen. Kuruzzen nannten sich diese Aufständischen, das ist Ungarisch und bedeutet Kreuzritter. Graf Imre Tököly war ihr Anführer
und unter ihm stürzten sich die protestantischen Ungarn in einen erbarmungslosen Kleinkrieg gegen die katholischen Kaiserlichen. Und immer, wenn ein Kuruzze den Kaiserlichen in die Hände fiel, wurde er zu Tode gefoltert. Es sei denn, er ließ sich bekehren, dann bekam er einen schnellen Tod. Wir Türken staunten nur und erschauerten über die Grausamkeiten, die sich die Christen gegenseitig zufügten." "Das sind die Werke der verderbten Katholischen!", rief Pfarrer Rupprecht erregt. "Glaubt Ihr,
Herr Pfarrer? Dann muss ich Euch noch berichten, was die evangelischen Kreuzritter den Katholiken antaten. Sie zogen ihre Gefangenen nackt aus, fesselten deren Arme an überhängende Äste starker Bäume und zündeten unter den jämmerlich schreienden Männern ein kleines Feuer an. Zuerst verbrannten so die Füße, dann die Beine und schließlich griffen die Flammen langsam auf den ganzen Körper über und erlösten die Durchgebratenen endlich von ihren unvorstellbaren Qualen. – Als Kruzitürken sind diese protestantischen
Kreuzritter, die unter osmanischer Fahne kämpften, in deutschen Landen berühmt geworden." "Genug, genug, Christian!", rief da der Pfarrer mit grauem Gesicht. "Ich bin nicht der Mann, um von solchen Gräuel zu hören. Ich danke Gott dem Allmächtigen, dass er mich in dieser friedlichen Gemeinde zum Hirten berufen hat. Lass uns einen Humpen Bier trinken gehen und von anderem reden! Die Freude über Belgrad hast du mir ja gründlich verdorben."
Am Abend, nachdem er aus dem Wirtshaus
heimgekommen war, kehrten Ibrahims Gedanken noch einmal zu seinem Gespräch mit dem Pfarrer zurück. Er mochte Pfarrer Rupprecht. Zusammen waren sie in Rückersdorf alt geworden. Er hatte ihn als einen gütigen und weichen Menschen kennen gelernt, der sich wohl ereifern konnte, zu guter Letzt jedoch immer die Kirche im Dorf ließ, wie man hierzulande zu sagen pflegte. Seltsam, dachte Ibrahim, mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte er nun schon in fremden Landen, sprach und dachte nur in diesem schwierigen Deutsch
und hatte eine Tochter aufwachsen sehen, die seine alte Heimat allein aus seinen Erzählungen kannte. Was war ihm eigentlich fremder, Deutschland oder das Türkenreich? Er konnte sich selbst keine rechte Antwort geben. Nachdem an Magdas wachsendem Bauch jeder hatte sehen können, dass sie schwanger war, hatte Ibrahim sein Schicksal angenommen: Wie sollte er auch jemals durch Hunderte Meilen Christenland zurück nach Ungarn flüchten? Außerdem war ihm die freche Magd teuer geworden. Die hatte anfangs eine harte Zeit und
rot geweinte Augen, denn das ganze Dorf spottete über das Türkenliebchen. Also ging er zum Pfarrer und ließ sich im Katechismus unterweisen. Er wollte den Glauben seiner Väter nicht verraten, aber Allah war großmütig. Aller Auslegungen der göttlichen Lehre zum Trotz gab es doch nur einen Gott. Und dieser Eine Gott würde seinem schwachen und verlorenen Sohn ins Herz schauen und dann, so hoffte Ibrahim, verzeihen. Zur Taufe gab es dann ein großes Fest. Aus allen umliegenden Gehöften und Dörfern kamen die Leute,
um zu sehen, wie aus dem Türk ein Christenmensch wurde. Pfarrer Rupprecht zelebrierte voller Stolz und Freude den geheiligten Ritus, und Ibrahims Herr, der Dragonerhauptmann Gottlieb Tucher von Simmelsdorf, ließ es sich danach nicht nehmen, ein üppiges Festmahl für das ganze Dorf in seinem Schloss auszurichten. Am kostbarsten aber war Ibrahim die Erinnerung an das strahlende Gesicht seiner Braut an ihrem Hochzeitstag. Denn bereits zwei Tage nach seiner Taufe heiratete er unter der erbeuteten türkischen Fahne, die der
Dragonerhauptmann der Rückersdorfer Kirche gestiftet hatte, die Margareta Malterin. Und keine fünf Monate später, im Sommer 1689 nach der Geburt des Herrn, erblickten seine Kinder das Licht der Welt. Wie der Pfarrer ins Kirchenbuch schrieb; nicht zwar aus keuschem ehbett, doch im ehbett erzeugte zwillinge. Auch wenn Gott ihm seinen Sohn bald darauf wieder nahm, so blieb ihm doch sein Tochter Elisabeth, die Freude all seiner Tage. Ein seltsames, aber doch ein gutes Schicksal, dachte Ibrahim, sprach sein
Nachtgebet und schlummerte bald darauf neben dem warmen Körper seiner Frau Magda ein. Des weiteren stand noch in dem Kirchenbuch Rückersdorfs geschrieben: Und ist also der zuvor genante Ibrahim nach denen schönen nahmen seiner werthestgeschätzten taufpaten und zeugen getaufft und genennet worden Johannes Gottlieb mit dem zunahmen Christian.
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