Links fehlt die Wortwerk-Navigationsleiste? Die Seite ist in einem fremden Frame gefangen? Bitte diesen Pfeil anklicken...

Exposé: Mutterkuchen Vaterland

Andreas Neuner



Kann eine Reise durch Deutschland sinnlich sein? Aber ja. Unser Vaterland ist doch wie ein nahrhafter Mutterkuchen, an dem wir knabbern müssen, - egal, ob es uns schmeckt oder nicht -, um groß und stark zu werden. Erst danach können wir uns abnabeln, ...


Mein Buch Mutterkuchen Vaterland möchte ein aktuelles Deutschlandbild einfangen. Kein fades, belehrendes, sondern ein buntes, subjektives. Dazu bin ich durch drei herausragende deutsche Orte gereist: Berlin, Harz und Weimar. Wie in einem "Roadmovie" bestimmen die Erlebnisse, Kontakte und Beobachtungen unterwegs den Inhalt des Buchs. Daher ist der Ton īmal ernst, īmal schwärmerisch, oft ironisch und manchmal auch sentimental. Ich hoffe dabei, mich irgendwo zwischen Heinrich Heines "Harzreise" und Florian Illiesī "Generation Golf" zu bewegen und trotzdem noch einen ganz anderen und spannenden Blick auf Deutschland zu eröffnen.


Textproben




Berlin

Vom neuen Zentrum Europas, – Osteuropas, – Deutschlands sehe ich erst einmal nichts weiter als die U-Bahn. Ich passiere die übliche Bahnhofs-Menagerie mit ihren Wermutsbrüdern, die heftig vor einem Schmuddelkiosk diskutieren, den jungen Proleten beiderlei Geschlechts, die zwischen den Ramschläden flanieren, den Omas mit bläulichem Haar, die ängstlich um sich blicken, den Junkies, die in Ecken liegen, den dicken Verkäuferinnen aus aller Herren Ländern, die hinter den Imbiss-Theken ihre schlechte Laune pflegen, und den ganz normalen Arbeitstieren mit stumpfem Blick, die hier nur durchhasten, um ihren Viehtransport nach Hause zu erwischen. Ich schwimme im Strom letzterer mit. Die U-Bahn ist voll. Ich komme im Gang nicht weit von einem Mädchen mit Zöpfen zum Stehen. Eigentlich bin ich schon viel zu müde für erotische Empfindungen jedweder Art. Zuerst nur zufällig, – wegen der Zöpfe vielleicht oder weil sie einen engen Rock trägt, unter dem schwarze Strümpfe mit Jugendstil-Ornamenten hervorlugen -, dann immer neugieriger bleibt mein Blick an ihr haften. Sie ist eine Schönheit, wenigstens für meinen Geschmack, wie schwerer, schwarzer Wein in einem Land unter der Mittelmeer-Sonne herangewachsen. Obwohl sie es nicht nötig hat, ist sie übermäßig stark geschminkt. Das Make-up liegt dick geschichtet auf ihrem Gesicht und wirkt alt. Wahrscheinlich hat sie es schon am Morgen aufgelegt, sich die witzigen Zöpfe geflochten und die seltsamen Strümpfe angezogen. Dann hat sie sich in den Tag gestürzt und ist enttäuscht worden. Ein Namensschild der Firma Werthheimer hängt verloren an ihre Brust geheftet. Darauf steht ihr Name: Jerasha. Sie ist bestimmt keine Deutsche. Das Namensschild hat sie vergessen abzunehmen. Nun ist es beinahe Abend, und sie fährt nach Hause und ist müde und traurig. Es ist die Traurigkeit, die mich fesselt. Ihretwegen denke ich über Jerasha nach. Ich fühle auf einmal Zärtlichkeit. Doch in demselben Augenblick hat Jerasha meinen Blick aufgefangen und sieht zu mir hoch. Die braunen Augen blicken ängstlich. Schnell wende ich mich ab. Nicht aus Koketterie! Ich befinde mich ja jetzt in der Großstadt. Hier hat jeder ein Recht auf seine Anonymität. Von einem Fremden bemerkt zu werden, noch dazu in der U-Bahn, ist eine Bedrohung. So lasse ich sie in ihrer Einsamkeit. Jerasha ist schon traurig genug.




Bosnien

Ich lache, da ich an die unbeholfenen Profilierungsversuche eines Grazer Schriftstellers denken muss. Immer findet einer eine Rechtfertigung. - Doch vielleicht ist es gar nicht Verblendung? Vielleicht werden einfach nur seine Bücher in letzter Zeit zu wenig gelesen, ist ihr Absatz zu gering? Vielleicht ist die Parteinahme nur ein gewitzter Publicity-Trick? Doch ich muss verdammt aufpassen mit dem, was ich sage. In Wien besuchte ich vor einiger Zeit die Lesung des bosnischen Kinderbuchautors Muhidin Saric. Es waren aber nicht Kinderbücher, aus denen er lesen wollte. Ganz im Gegenteil, an diesem Abend trug er Gedichte und Auszüge aus einem Roman vor, in denen er seine Erlebnisse in einem serbischen Konzentrationslager verarbeitet hatte.

Trotz der Distanz zu seinen Worten, die durch den deutschen Übersetzer geschaffen wurde, erkannte wir Zuhörer deutlich, wie angeschlagen der Mann war. Angeschlagen, fast durchgeschlagen, wie ein einst mächtiger Baum, den seine Mörder nicht ganz zu Ende hatten fällen können. Nur noch an einem schwachen Holzstück, fast nur Rinde, war der Baum mit seinen Wurzeln verbunden. Und keiner, der ihn sah, konnte wissen, ob der Mann weiterleben und wieder grünen würde, oder ob ihn nicht doch ein letzter Windstoß endgültig zu Boden kippen ließe.

Besonders eine Stelle aus seinem Roman Keraterm ließ mich die Hölle schmecken. Dort erzählte Saric, wie die Gefangenen nachts keinen Schlaf fanden. Denn sobald sie in ihren Baracken lagen, hörten sie, wie sich ihre Wächter draußen Mut antranken. Irgendwann wurde dann die Tür aufgerissen. Ein Name wurde unter die vor Angst stummen Männer geschrieen. Jeder atmete auf, wenn es nicht sein Name war. Nur einer, der Aufgerufene, musste sich nun erheben und seinen schwersten, vielleicht letzten Gang antreten.

Draußen wurde der Bosnier dann gefoltert. So ging es Nacht für Nacht hindurch. Jede Nacht traf es eine Handvoll Männer. Mancher kehrte danach blutüberströmt in die Baracke zurück, mancher nicht. Die ewige Ungewissheit der nächtlichen Angst zerfraß die Herzen der Männer. Mir wurde schlecht vor Wut. Am Ende der Lesung stellte ich wegen dieser Wut eine naive Frage. Ich wollte von Saric wissen, ob er und die anderen KZler nie an Widerstand gedacht hatten. Ob ihnen nicht aus Verzweiflung der Gedanken gekommen war, sich mit der ganzen Masse von hunderten Männern auf ihre bewaffneten Peiniger zu werfen, um diese einfach zu überrennen, niederzudrücken, zu zerstampfen. Gewiss wären dabei viele umgekommen, doch besser so, als langsam Nacht für Nacht zuerst im Herzen und zuletzt in Wirklichkeit zu sterben. Doch der bosnische Schriftsteller verstand mich falsch. Er glaubte, dass ich ihm mangelnden Widerstand vorwerfen wollte. Traurig und verletzt blickte er mich an und verneinte dann höflich meine Überlegungen. "Man musste anonym bleiben. Das war unsere Art zu überleben," sagte er. "Aus der Masse hervorzutreten, bedeutete den Tod." Am Ende der Lesung, als alle betreten klatschten und aufstanden, trat eine ältliche Dame an mich heran und plusterte sich auf: "Junger Mann, nur ihre Jugend entschuldigt Sie! ..." Sie sagte noch einiges mehr, und auch andere Herrschaften schauten mich entrüstet an. Bildungsbeflissen war die Dame hergeeilt, um betroffen zu werden. Beim Kaffee-Kränzchen war sie wahrscheinlich dafür, dass das ganze muselmanische Pack und die Tschuschen sowieso aus ihrem sauberen Österreich zu verschwinden hätten. Bei so einer Lesung aber lebte sie die Betroffenheitskultur. Mein Fehler war es gewesen, wenig betroffen, sondern stattdessen zornig empfunden zu haben.




Buchenwald

Die Wunde schmerzt noch. Die meisten meiner Landsleute möchten wohl endlich, einen Schlussstrich ziehen, Ruhe finden und nur noch in die Zukunft schauen. Auch Europas Kulturhauptstadt des Jahres 1999 macht dabei keine Ausnahme. Denn als Patrick und ich am Morgen an die Bushaltestelle kommen, von der der Bus nach Buchenwald abfährt, müssen wir erstaunt feststellen, dass es die meiste Zeit am Tage nur alle zwei Stunden eine Fahrgelegenheit zum Konzentrationslager gibt. Soll der Tourist nur die heile Welt der Weimarer Klassik oder, wenn es sein muss, auch noch das Bauhaus besuchen? Der böse Verdacht drängt sich auf, dass man hier ein weniger schönes Stück aus der Weimarer Vergangenheit verdrängen will. Sollen wir zu Fuß den Caracho-Weg und die Blutstraße hinauf marschieren? Es sind ja nur ein paar Kilometer steil bergauf, - ein schöner Spaziergang.

Nach einer kurzen Beratung frühstücken wir ein zweites Mal im nahen Bahnhof und warten danach noch einmal eine halbe Stunde auf den KZ-Bus. Nicht wenige warten mit uns. Darunter auch eine junge Koreanerin, mit der wir ins Gespräch kommen. Hye-Gyeong lebt erst seit kurzem in Deutschland. Sie studiert in Kaiserslautern, und ihr Deutsch ist noch ein wenig unbeholfen. Wie wir ist sie gekommen, um sich die Kulturstadt Weimar anzusehen und eben auch das KZ vor seinen Toren. Da wir uns sympathisch sind, schließt sie sich uns an. Buchenwald ist ein so schönes Wort. Auschwitz klingt deutschen Ohren sogleich wie der Tod. Buchenwald dagegen verspricht Idylle. Und eine Idylle ist der Wald an diesem Frühlingstag. Warum aber haben die Nazis bei der Namenswahl das gebräuchliche Ettersberg durch den Namen Buchenwald ersetzt? Wollten sie Goethes Andenken schonen?

JEDEM DAS SEINE steht als Inschrift in das Gitter des Lagertors eingefügt. Wie erklärt man diese Häme einer Koreanerin? Hye-Gyeong hat nur eine vage Vorstellung vom Wesen des Nationalsozialismus. Also, – wie übersetzt man das? Wir stehen in der Bringschuld. Vielleicht so: "Jeder bekommt, was er verdient. ?" – Nein das ist nicht gut, verfälscht den eigentlichen Sinn. – "Jedem sein Recht. ?" – Noch schlimmer! Wir stellen frustriert fest, dass es keine negative Umschreibung von Jedem das Seine gibt. Genial teuflisch ist der Satz an diesem Ort, müssen wir uns eingestehen. So geben wir unsere Erklärungsversuche für Hye-Gyeong auf. Es ist zu perfide.

In diesem Satz blitzt das Grauen auf. Der doppelte Boden der deutschen Seele öffnet sich einen Spalt, so dass wir in einen der widerlichsten Abgründe blicken können. Doch man hüte sich davor, all das nur im Nationalsozialismus finden zu wollen. Eine kleine Anekdote aus dem Leben unseres vielgepriesenen Nationaldichters Goethe fällt mir ein, um das Thema unserer Abgründe zu illustrieren: Da gab es den Fall der Anna Catharina Höhn. Die ledige Magd aus dem Dorf Tannroda bei Weimar war wie das Gretchen im Faust zur Kindsmörderin geworden. In ihrer Armut hatte sie aus Verzweiflung ihren neugeborenen Sohn getötet. Nun saßen die ehrwürdigen Herren des Geheimen Rats über die geständige Frau zu Gericht. Schnauß war für die Todesstrafe, von Fritsch dagegen. Der Herzog selbst wollte das Urteil der dreiköpfigen Kommission überlassen, neigte aber eher zu einer lebenslangen Haftstrafe. Goethes Stimme musste den Ausschlag geben. Es war die Zeit der Aufklärung. Ein milderes humanistisches Menschenbild verlangte nicht unbedingt den Tod der Anna Höhn. Die Not der Magd konnte selbst stumpfe Seelen rühren. Warum also nicht Gnade gewähren? Doch Johann Wolfgang von Goethe, erst frisch geadelt, war ein Mann der Macht geworden. Kalt bis ins Herz wie alle Schreibtischtäter tat er seine Pflicht, auf die sich ja auch nach dem 2. Weltkrieg so viele deutsche Täter beriefen. Am 4. November 1783 schrieb er: Es möge räthlicher seyn, die Todtesstrafe beyzubehalten. Drei Wochen später wurde die Kindsmörderin Anna Höhn öffentlich in Weimar geköpft. – "Räthlicher." - "Jedem das Seine."



 < zurück